Elli von Planta
Von Alfred Adler und seiner Psychologie ist in der öffentlichen Wahrnehmung im Wesentlichen der Minderwertigkeitskomplex übriggeblieben. Den kennt jeder! Aber kaum jemand kennt den Zusammenhang, den Adler hergestellt hat zwischen der Entmutigung, der mit dem vertieften Minderwertigkeitsgefühl1 verbunden ist, und den Folgen, den diese Entmutigung schliesslich zeitigt; dass diese Entmutigung in der Regel nämlich in Destruktion endet: Irgendetwas geht kaputt. Über die Entstehung von Entmutigung, die immer eine Form von Angst ist, und dem Bedürfnis, diese Angst zu überwinden, landen wir bei dem, was ich den ipsologischen Dauerbrenner nennen möchte: Die Frage, wie finden wir unseren Mut. Und warum ist es so wichtig, seinen Mut zu finden? Damit möglichst wenig kaputt geht, damit wir nichts kaputtmachen, weder uns selbst noch andere(s).
«Mut ist wichtig, damit nichts kaputt-geht, damit wir nichts kaputtmachen, weder uns selbst noch andere(s).»
Und wenn ich sage, dass Mut der «ipsologische Dauerbrenner» ist, dann will ich dies an seinen Erscheinungsformen festmachen, an denen wir Angst, Kaputtes und Mut beobachten können:
Da ist zuerst die Weltliteratur – und gerade deshalb ist das nämlich Weltliteratur: Der Mensch im Konflikt zwischen recht und schlecht, falsch oder richtig, gut und böse, solange es Weltliteratur gibt: ungefähr seit zweieinhalbtausend Jahren. Es endet entweder gut oder tragisch: Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes gegen den expliziten Willen ihres Vaters und wird dafür lebendig eingemauert. Wilhelm Tell bietet Gessler die Stirn, weil den Schweizern die österreichische Besatzung unerträglich ist. In Schillers Don Carlos erleben wir schliesslich, wie das Klein-Klein an Missverständnissen und höfischen Intrigen Einfluss auf die Weltpolitik nimmt.
Apropos Weltpolitik – auch hier gibt es viel Anschauung für Unmut und Mut: Mandela und Gandhi wurden als Staatsfeinde wahrgenommen und entsprechend behandelt, bevor ihre Ideen für eine gerechtere Gesellschaft Anerkennung fanden. Heute setzen die Menschen in Russland und Belarus, in Honkong, Myanmar und in der Türkei (und vielen anderen Gegenden der Welt) ihr Leben aufs Spiel, wenn sie zum Ausdruck bringen, dass sie mit der Art und Weise, wie sie regiert werden, nicht einverstanden sind. Die Widerstandskämpfer gegen das Hitlerregime in Deutschland wurden allesamt hingerichtet. Heute feiern wir sie als leuchtende Beispiele für Unbeugsamkeit und Mut. Verrat (und damit Heldentum) sei eine Frage des Datums, meinte Talleyrand, der Prototyp eines opportunistischen Diplomaten, der sich mit dieser Haltung geschickt durch die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege bis hin zum Wiener Kongress schlängelte: weniger Mut als vielmehr Kalkül. Kalkül, ist die kühle Berechnung, das Abwägen, ob ich mich einsetzen und damit aussetzen oder doch lieber still sein soll.
Gehen wir vom Weltgeschehen und Weltbewegendem zum Persönlichen und Privaten, dann wägen wir dort ständig ab: Am Arbeitsplatz sind wir mit Willkür und Respektlosigkeit konfrontiert, manchmal ‘nur’ mit Überbelastung, gegen die sich zu wehren man allen Mut zusammennehmen muss … oder müsste. Und wenn nahestehende Menschen, Eltern, Kinder, die beste Freundin, die Nachbarn, der Tennispartner oder die Vorstandskollegin Dinge tun oder sagen, denen wir ‘eigentlich’ widersprechen sollten oder die wir uns nicht gefallen lassen wollen, was dann? Josef Weizenbaum2 hat einmal gesagt: «Es ist ein weit verbreiteter, aber schmerzlich irriger Glaube, dass Zivilcourage nur in Zusammenhang mit welterschütternden Ereignissen bewiesen werden kann. Im Gegenteil. Die grösste Anstrengung kostet sie oft in jenen kleinen Situationen, in denen die Herausforderung darin besteht, die Ängste zu überwinden, die uns überkommen, wenn wir über unser berufliches Weiterkommen beunruhigt sind, über unser Verhältnis zu jenen, die in unseren Augen Macht über uns haben, über alles, was den Verlauf unseres irdischen Lebens stören könnte.»
Die Frage ist also: Haben wir so viel Vertrauen in uns selbst und in den anderen, bringen wir den Mut auf, einen Konflikt zu riskieren, kein gemeinsames Verständnis zu finden? Und hier können wir jetzt alle Formen von Mut und Feigheit, von Unverschämtheit und Zurückhaltung, von Geschicklichkeit und Plumpheit durchdeklinieren – Adlerianer würden hier von lebenstiltypischen Aspekten sprechen – die das jeweilige Verhalten charakterisieren. Wer traut sich? Warum? Oder sehen die, die sich trauen, gar nicht, dass sie ein Risiko eingehen?
«Es ist nicht allen gegeben, für die eigene Meinung und Haltung hinzustehen, selbst dann nicht, wenn weit und breit keine Nachteile zu befürchten sind.»
Lassen Sie mich dazu eine eigene Geschichte erzählen, die ich als Schülerin erlebt habe, und die mich viel über dieses Sich-trauen oder besser: das Sich-nicht-getrauen gelehrt hat: Wir schreiben das Jahr 1967 an einem Humanistischen Gymnasium in Norddeutschland. Ein Mitschüler war unserem Mathematiklehrer ein Dorn im Auge. Er verpasste ihm in einer wichtigen Prüfung eine derart ungenügende Note, dass sie auch mit den sonst guten Leistungen in allen anderen Fächern nicht ausgeglichen werden konnte, und die Promotion ausschloss. Die ganze Klasse wusste um diese Zusammenhänge, und wir beschlossen einzuschreiten. Ich würde zum Direktor der Schule gehen und darum bitten, dass unser Mitschüler zu einer Nachprüfung antreten dürfe. Alle waren einverstanden, alle wollten ihn in der Klasse behalten, alle waren sich einig darüber, dass unser Mathelehrer einen Schüler auch aus persönlichen Gründen hatte scheitern lassen. Als der Direktor schliesslich in unserer Klasse erschien, um mit uns zu reden, konnte er davon ausgehen, dass wir den Entscheid zu diesem Vorgehen gemeinsam getroffen hatten. Plötzlich war da niemand mehr, der sich äussern wollte. Die Sache ist schliesslich glimpflich ausgegangen. Aber ich wurde immer wieder an diese Situation erinnert, wenn ich mich, im Konsens mit anderen, für eine Sache eingesetzt habe und am Ende doch allein dastand. Es ist nicht allen gegeben, für die eigene Meinung und Haltung hinzustehen, selbst dann nicht, wenn weit und breit keine Nachteile zu befürchten sind.
Habe ich mich damals oder seither mutig gefühlt, wenn ich mich – im Wesentlichen für andere – gewehrt oder Kritik geübt habe? Nein, eigentlich nicht. Für mich ist es irgendwie selbstverständlich. Und ich konnte mir lange gar nicht vorstellen, dass irgendeine Obrigkeit, sei es ein Lehrer, ein Chef oder auch eine ganze Geschäftsleitung nicht wissen wollte, was schiefläuft, wo der Schuh drückt, dass zum Beispiel Untergebene die Sache anders wahrnehmen, Dinge anders verstanden haben als von den Vorgesetzten gemeint.
Vielleicht stimmt es ja, dass Helden etwas dümmlich sind: Sie wollen eine Gefahr abwehren, schmeissen sich dazu – mutig – ins Getümmel, ohne zu überlegen, dass sie dabei zu Schaden kommen könnten. Nachdem das Drama allerdings vorüber ist, braucht es sie nicht mehr – im Gegenteil. Helden sind dann sogar lästig: Erstens ist die Gefahr ja vorbei, und zweitens erinnert ihr Mut an die eigene Feigheit. Früher durfte der Held wenigstens die Prinzessin heiraten, aber heute? Da hat sich die Weiblichkeit – mindestens in unseren Breitengraden – erfolgreich dagegen gewehrt, als Preisgeld herhalten zu müssen (was ebenfalls allerhand Mut erfordert hat).
Und dann gibt es auch die, die nichts sagen, die sich schwach geben und sicherlich auch schwach fühlen. Mit dieser Schwäche motivieren sie Menschen – zum Beispiel mich – ihnen zu helfen, ihnen beizustehen, sich für sie einzusetzen. Ich springe also ein, einst Inhalt der Funktion, die ich als Personalvertreterin einer grossen Bank ausübte, um in einem Konflikt zu vermitteln: Gespräche mit Vorgesetzten (sie hatten doch wirklich Führungsstärke vermissen lassen) oder sogar das Bemühen um einen neuen Arbeitsplatz (die Atmosphäre unter den mobbenden Kolleg*innen waren ja wirklich nicht mehr zumutbar). Wirklich? Eine gewisse Zeit später befand sich die eine oder der andere meiner Klient*innen nämlich in einer ähnlichen Problemlage wieder. Wieder Opfer der Verhältnisse … Diese Opferhaltung kann sehr machtvoll sein; dann, wenn sie andere zwingt einzuspringen. Auch hier habe ich gelernt, zuerst einmal näher hinzuschauen.
Näher hinschauen, diese Muster aufzudecken, die eigenen, wie die der Menschen um uns herum, dabei hilft uns die Psychologie Alfred Adlers. Und auch dabei, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie ihre Energie, Neugier und Kreativität konstruktiv nutzen, statt sich auf der unnützen Seite des Lebens einzurichten. Sie hilft uns, Stärken und Schwächen unter die Lupe zu nehmen: Müssen andere schwach sein, damit ich stark sein darf? Macht mich die Stärke anderer schwach? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Ist meine Schwäche allenfalls eine Stärke, und was passiert, wenn ich Schwäche aufgebe und stark werde? Diese Auseinandersetzung finden die einen aufregend und motivierend, die anderen beängstigend und lähmend: Die persönliche seelische Seite der Individualpsychologie. Sie wird dort zur Philosophie und zur Sozialpsychologie, wo sie die Gesellschaft, die Welt in die Betrachtung, ihre Gedanken und Überlegungen einbezieht: das Wesen der Individualpsychologie. Denn dort, wo es an Mut fehlt, dort, wo Angst herrscht, fehlt es am Gemeinsinn, am Einbezug des Gemeinwohls, am Gemeinschaftsgefühl. Mut und Angst sind Teil unseres Lebens und werden es immer bleiben. Wie gut, dass die Individualpsycholog*innen Mutspezialist*innen sind.
1 Vertieft, weil es für Adler auch das «gesunde», motivierende Minderwertigkeitsgefühl gibt.
2 Josef Weizenbaum, 1923-2008, war ein deutsch-amerikanischer Informatiker der ersten Stunde, der später immer wieder auf die Gefahren künstlicher Intelligenz aufmerksam machte.
David Zeindler
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