Nani Wirth, Andrea Pini, Sabine Landscheidt
Am 5. November 2024 ist Yvonne Schürer verstorben.
Yvonne Schürer war eine wichtige Figur unter den Schweizer Individualpsycholog*innen. Sie hat die SGIPA, das Alfred Adler Institut und ICASSI nachhaltig geprägt.
Wir möchten hier 3 verschieden Stimmen zu Wort kommen lassen.
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Text von Nani Wirth
Kritische Fragen zu religiösen Ritualen, zur Auslegung der Bibel etc. haben damals im Konfirmanden-Unterricht den Pfarrer herausgefordert und uns zwei Teenies zusammengebracht. Daraus entstand eine lange Freundschaft, die am 5. November dieses Jahres abrupt mit dem Freitod von Yvonne endete. Da dieser Abschied mir unendlich schwer fällt, möchte ich meine Freundin in diesem Text nochmals in einigen “ Bildern“, die ich mittrage, aufleben lassen.
Yvonne stieg als junge Frau in ihren erlernten Beruf als Lehrerin ein. Sie hatte im Sinn, nicht die gleichen Fehler zu machen mit den Kindern, die sie selber als Schulkind erlebt hatte und war voll motiviert, diese ernst zu nehmen. Doch sie hatte nicht mit der Macht des Erziehungssystems gerechnet und gab, völlig desillusioniert, nach kürzerer Zeit wieder auf. Sie hat sich dann einer anderen Arbeit zugewandt, die sie bestimmt gut, wenn auch weniger enthusiastisch, machte und es kam ihr vermutlich entgegen, dass sie nach ihrer Verheiratung und einem Jahr in Aegypten, von dem sie immer wieder mit Begeisterung erzählt hat, bald ihre eigenen drei Kinder bekam. Allerdings, wie das so ist für junge Mütter: die eigenen Kinder bringen einen an die persönlichen Grenzen. Für Yvonne war das jedoch nicht nur ein Problem, sondern der Ruf zum Aufbruch. Sie war immer eine Problemlöserin.
„Kinder fordern uns heraus“ von Rudolf Dreikurs gab den neuen Anstoss. Als dieser Autor (vermutlich durch Erik Blumenthal?) zu einem Seminar nach Zürich kam, um mit Psycholog*innen und Lehrer*innen zu arbeiten, sass Yvonne in dieser Gruppe – tief beeindruckt und überwältigt von all dem Neuen, das die Individualpsychologie fordert und zu bieten hat. (Wem von uns ist es nicht auch so ergangen beim Eintauchen in die IP!). Sie lernte also Dr. D. kennen (wie er bei seinen Mitarbeitern genannt wurde.) Als er anlässlich einer Analyse, die sie bei einer Gruppenarbeit äusserte, Yvonne als „geborene Psychologin“ lobte, gab dies den Startschuss für ihre neue Berufslaufbahn, der sie für den Rest ihres Lebens treu blieb. Das Studium am IAP wurde ergänzt durch die Vertiefung in die IP: einerseits in einer Selbsterfahrungsgruppe bei Blumenthal und anderseits bei ICASSIs, die alljährlich besucht wurden. Dass sie mich damit ansteckte, war klar und so wurde unsere Freundschaft auch auf einer neuen Ebenebe stärkt.
Auch Erik Blumenthal erkannte früh ihre Begabung, und wie tief sich Yvonne in der IP verankerte und schnell das Wesentliche verstand. Er holte sie deshalb auch in den Vorstand der SGIP, in dem sie viele neue Entscheidungen und Entwicklungen aktiv mittrug, etwa 1974 die Einführung des 3-jährigen Beraterkurses, oder 1976 die Gründung des AAI. 1982, als Erik sich aus gesundheitlichen Gründen zurückzog, gab auch Yvonne ihr Vorstandsmandat ab.
Nach dem Abschluss ihres Studiums hatte sie schon bald eine gut gehende Beratungspraxis aufbauen können, in der sie neben Einzelberatungen auch Erziehungsberatungen und Paartherapien anbot. Und natürlich wurde sie nun auch in den Beraterkursen als Mitarbeiterin eingestellt, denn man brauchte dort alle kompetenten Kräfte. Sie übernahm Lehraufträge zur Erziehung, zu Paarberatung, aber auch Einführungsabende, in denen die Lernenden die ersten Erfahrungen mit Adlers Theorien machen konnten. Das ging oft über Selbsterfahrung. Ihre lebendige Darstellung des Stoffs, den sie jeweils zu vermitteln hatte, gab unmittelbare Einsichten in die Themen. Und ihre „Handouts“ waren immer auf die Praxis ausgerichtet und brauchbar.
Es muss etwa 1982 gewesen sein, als Yvonne und ich gemeinsam die erste Selbsterfahrungsgruppe anboten für Studis aus den BTKs, die 50 Stunden ihrer Lehranalyse in Gruppen zu absolvieren hatten. Es wurde eine wunderbare Aufgabe für uns zwei, in die wir unser Herzblut legten, da wir überzeugt waren, dass Gruppen den Lernprozess und die Heilung von Leiden sehr fördern können. Deshalb öffneten wir diese Gruppen auch für unsere privaten Klient*innen. Es war eine „ongoing group“, die Mitglieder wechselten über die Jahre, aber wir zwei Leiterinnen wurden immer inniger in unserer Zusammenarbeit, in der auch alle unsere persönlichen Fortschritte und neu erlangten Kompetenzen eingebracht werden konnten. In der Gruppe konnte ich so richtig mitverfolgen, was für eine einfühlsame und kompetente Therapeutin sie war. Es war wohl 2019, als wir die letzten Gruppenmitglieder verabschiedeten.
Yvonne war für mich in vielem ein Vorbild und eine Vorreiterin, immer mindestens um eine gute Nasenlänge voraus. Doch gab sie mir nie das Gefühl, meine Fähigkeiten wären den ihren nicht ebenbürtig. Sie war ein durch und durch ermutigender Mensch. Auch darin hatte sie die IP eingesogen wie die Luft, die sie atmete. Es kam einfach wie von selbst.
Neben den psychologischen Arbeiten, die wir teilten, hatten wir aber auch viel Spass zusammen. Wir fuhren zusammen zu ICASSI, wo wir manchmal in denselben Gruppen sassen zum Lernen, uns mit denselben lebenslustigen Teilnehmenden herumtriebenund am „Bunten Abend“ oft mit skurrilen Ideen Theater und Sketches auf die Bühne brachten. Wir fuhren einmal mit dem Nachtzug nach Bremen zu einem DGIP Kongress, wo wir Elsa Andiressens kennenlernten. Deren systematische Anleitung zur Lebensstilanalyse wurde fortan ein Werkzeug für unsere je eigene Praxis und Yvonne hat dieses nochmals verständlicher dargestellt und präzisiert, so, dass der Stoff besser brauchbar wurde zur Einführung für Studierende, die lernen wollten, wie man einem Lebensstil auf die Spur kommt.
Wie es aber Menschen so geht, die aussprechen, was sie denken und feste Überzeugungen haben, die sie verfechten, gab es am AAI auch Kolleg*innen und Studis, die Yvonne nicht so gewogen waren. Es gab vor allem eine Epoche, in der Ipsolog*innen, die Adlers frühe Phase als die wirklich wichtige in seinem Schaffen betrachteten diejenigen, die – amerikanischer Sicht entsprechend – sich vor allem auf die späte Zeit des gemeinsamen Lehrers beriefen, in der Adler sich mit Erziehung befasste und zum „Sinn des Lebens„ äusserte, als nicht genügend „wissenschaftlich verankert“ betrachteten. Es war für Yvonne eine schwierige Zeit, in der sie all jenen, die sie unterstützten, sehr verbunden war.
Unter ihnen waren auch viele ihrer (ehemaligen) Lehranalysanden, die gerade durch die Arbeit an sich selber viel von Yvonnes Interpretation und ihrem ermutigenden und praktischen Ansatz profitiert hatten, aber auch von ihrer scharfen Intelligenz und Analyse.
Ihre festen Standpunkte und die Fähigkeit, diesen getreu trotzdem offen auf Neuerungen zuzugehen, machten Yvonne auch im Vorstand (sie verbrachte zweimal eine längere Mandatsepoche darin) zu einer zwar nicht besonders Harmoniebedachten, aber trotzdem sehr geschätzten Mitarbeiterin.
Je länger je mehr stellte sich für Yvonne jedoch heraus: ihre wirkliche geistige Heimat war ICASSI. Auch bei ICASSI war sie zwei Mandatsepochen im Vorstand aktiv. Sie fühlte sich in diesem Umfeld rundum gewürdigt: von Eva Dreikurs und den andern Dozierenden, wie auch von Studierenden, die ihre Kurse besuchten. Sie war immer einerseits Teilnehmerin, sass jeweils bei einem*r ihrer Kolleg*innen im Kurs, um selber zu lernen, anderseits konnte sie in eigenen Kursen ihre Spezialitäten anbieten, die von diesen Studierenden begeistert aufgenommen wurden. In der Folge wurde sie auch nach Japan oder Israel eingeladen für Seminare. Und sie hatte unter den Dozent*innen bei ICASSI dicke Freunde, die Heinz und sie auch in deren Heimat besuchten.
Dass irgendwann im höheren Alter diese Freude an Aktivität, die etwa auch zur Sucht zu werden droht, aus Mangel an Energie nicht mehr erfüllt werden kann, das kann ich hinnehmen. Aber dass es meine Freundin nicht mehr gibt, das will mir nicht inden Kopf.
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Text von Andrea Pini
Meine erste Vorlesung mit Yvonne Schürer am Alfred Adler Institut ist mir noch in bester Erinnerung. Ich war an der Reihe, das Protokoll zu schreiben – eine echte Herausforderung! Die Vorlesung war reich bepackt mit theoretischen Inhalten, spannenden Beispielen aus ihrem Berufsalltag und konkreten Hinweisen auf ihre Methode.
Sie war unglaublich überzeugend!
Diese für mich perfekte Mischung veranlasste mich, diverse obligatorische Vertiefungsseminare bei ihr zu besuchen: Lebensstilarbeit, Erziehungsberatung, Paarberatung. Sie gab Preis, wie sie arbeitete. Sie vermittelte uns ihre Methoden. Das gab uns die Möglichkeit, in den Beruf einzusteigen. Nach der eher theoretischen Ausbildung am AAI bot sie die praktische Umsetzung - der Transfer von der Theorie in die Praxis. Sie schloss eine Lücke der Ausbildung am AAI.
Ihre grosse Stärke war die Ermutigung. Diese IP-Methode beherrschte sie in Perfektion. Sie zeigte konkret, wie Ermutigung funktioniert. Sie traute uns zu. Sie traute mir zu. Sie war Individualpsychologin durch und durch.
Das Analysieren von Kindheitserinnerungen und das Erarbeiten des Lebensstils war mit ihr immer besonders spannend. Sie hatte eine super gutes Gespür für die zentralen Punkte einer Geschichte. Über Jahre trafen wir uns bei ihr zur Supervision – vor allem zum Besprechen von Paarberatungen.
Viele Jahre später, als Vreni Weber und ich die neue Weiterbildung zum Thema individualpsychologische Erziehung aufbauten, übernahmen wir genau dieses Prinzip. Der Transfer aus der Theorie in die Praxis ist uns sehr wichtig. Wir sind davon überzeugt, dass genau das entscheidet, ob man in den Beruf einsteigen kann und sich zutraut, Menschen zu beraten.
Wir heuerten Yvonne als Referentin an. Sie unterstützte den Aufbau unseres neuen Instituts, unterrichtete und blieb uns mit wenigen Themen bis ins hohe Alter erhalten.
Wieder einmal landete ich zur Erziehungsberatung bei ihr, weil mein widerspenstiger, pubertierender Sohn mir schlaflose Nächte bereitete. Wir sammelten gemeinsam sein Stärken – so einfach. Wir diskutierten darüber, wann Erziehungsarbeit zu Ende ist und Beziehungsarbeit bleibt. Ermutigt ging ich nach Hause mit einem freundlichen, stolzen Blick auf meinen eigenwilligen, kräftigen Sohn!
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Text von Sabine Landscheidt
Mit tiefem Bedauern teilen wir den Verlust unserer lieben Freundin und langjährigem Vorstandsmitglied Yvonne Schürer mit, die am 5. November 2024 verstorben ist. Ihre Beiträge zu ICASSI und ihr unerschütterliches Engagement für die Individualpsychologie haben ein bleibendes Vermächtnis hinterlassen.
Yvonnes Reise mit ICASSI begann 1982 in Bad Gastein, Österreich, wo sie Teil der Fakultät wurde und ihren ersten Kurs über „Das demokratische Klassenzimmer“ unterrichtete. Ihre Leidenschaft für die Individualpsychologie wurde früh durch ihre Teilnahme an Vorträgen von Rudolf Dreikurs in Zürich geweckt. Als junge Mutter nahm Yvonne mit großer Begeisterung an seinen Vorträgen teil, die ihr Lebenswerk und ihre Hingabe an die adlerianische Gemeinschaft prägten.
Im Sommer 2018 war Yvonne zuletzt als Dozentin in Bonn, Deutschland. Während ihres langjährigen Engagements für ICASSI diente sie in drei Amtszeiten von jeweils vier Jahren im Vorstand. Mit ihrem Wissen, ihrer Führungsstärke und ihrer Begeisterung trug sie maßgeblich zum Wachstum und dem Erfolg von ICASSI bei.
Auch nach ihrem Rückzug aus offiziellen Rollen blieb Yvonne der adlerianischen Gemeinschaft verbunden und nahm bis zum Sommer 2024 an den virtuellen Adler Cafés teil. Diese Treffen bereiteten ihr große Freude und hielten sie mit Adlerianern aus der ganzen Welt in Kontakt.
Yvonne überlebte ihren geliebten Ehemann Heinz Schürer, der am 19. Juni 2024 verstarb und ebenfalls viele Jahre Teil der ICASSI-Sommerschulen war.
Yvonnes Nachruf, der in Schweizer Zeitungen veröffentlicht wurde, enthielt ein wunderbares Zitat von Rudolf Dreikurs: „Das Einzige, was man im Leben braucht, um sich zu entwickeln und seine Ziele zu erreichen, ist Mut.“ Diese Worte spiegeln den Geist wider, mit dem sie ihr Leben lebte und andere inspirierte.
Der ICASSI-Vorstand trauert um Yvonne Schürer, eine engagierte Lehrerin, Führungspersönlichkeit und Freundin. Ihre Freundlichkeit, Vision und ihr Mut werden für immer in unseren Herzen bleiben.
Beate Letschert-Grabbe
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