Elli von Planta
Vor Jahren habe ich einmal einen Artikel geschrieben mit dem Titel: «2b or not drby – Sein oder Nicht-Dabeisein». Damals kam mir dieser Wortspielmix aus Shakespeare-Zitat – «auf zeitgeistlich»und unserem Dialekt noch lustig vor. Ich schrieb darüber, wie abgehängt man sich vorkommen kann, wenn man diese neuen, elektronischen Ausdrucksformen nicht versteht, die (meist englischen) Abkürzungen oder Emojis. Inzwischen hat dieThematik des Unverständnisses und Ausgeschlossen-seins beängstigende Formen angenommen.
Es geht immer noch darum, etwas oder sichgegenseitig (nicht) zu verstehen. Aber jetzt haben sich Unverständnis bzw. (Noch-)Nicht-Wissenzu Auseinandersetzungen um Identität und Diskriminierung ausgewachsen. Nicht nur Artikel, Kommentare und Diskussionen gibt es dazu.‘Hate-speeches’ sind die Regel und nicht die Ausnahme. Es kommt sogar zu Tätlichkeiten. Zum Lachen ist einem keineswegs mehr zumute. Und trotzdem geht es doch immer noch um dasselbe, nämlich um Zugehörigkeit.
Erstaunlich – und mich begeistert es immer wieder – wie das Konzept der Individualpsychologie dieses Phänomen erklärlich macht. Alfred Adler hat vorüber 100 Jahren diese Zugehörigkeit und die damit verbundenen Gefühle, bereits zum Dreh- und Angelpunkt der Menschlichkeit gemacht. Menschlichkeit deshalb, weil Menschen als soziale Wesen erst in der Gemeinschaft zu Mitmenschen werden. «Einen Platz haben» ist deshalb so wichtig, weil dieser Ausgangspunkt die Orientierung verschafft, entlang derer wir unser Weltbild, das Bild von uns selbst und unserer Beziehungen ‘sortieren’. Dazugehören ist deshalb so wichtig, weil sie diepsychische Energie freisetzt, die sich schliesslich konstruktiv dem Gemeinwohl zuwenden kann.
Und nun befinden wir uns in diesem postpatriarchalen Durcheinander1. Damit ist gemeint, dass die ursprüngliche Ordnung von oben und unten, von Männern hier (oben), Frauen dort (unten) einem Chaos gewichen ist, in dem sich niemandmehr zurechtfindet. Plötzlich haben alle stets etwas zu sagen; alle behaupten Recht zu haben – und Rechte sowieso. Und es gibt einen grossen Streit darüber, ob die, die behaupten, keine Rechte zu haben, damit allenfalls gar nicht recht haben oder eben doch – erst recht!
Keiner weiss mehr so recht, welche Spielregelngelten, und ob neue, ins Spiel gebrachte Spielregeln, sinnvoll sind. Was darf ich (noch), was darf ich nicht (mehr)? Wo ist mein Platz, meine Einordnung, wo die damit verbundene Orientierung, der Halt, der mir zur Haltung verhelfen würde?
Es geht also um das Thema Zugehörigkeit. Es geht darum, dass oderdass man eben nicht dazugehört, dass man dadurch, dass man hier dazugehört, dort nicht dazugehören soll, darf oder kann; dass einem durch Zugehörigkeit zur einen ‘Kategorie’ die Zugehörigkeit zu einer anderen verweigert wird. Gefordert wird, dass alles und jedes, jeder und jede «gleichgestellt»sei. Wenn aber alles gleichgestellt, (gleichgeschaltet) ist, wo und wie können wir «Differenzierungen» wahrnehmen – Unterscheidungen, Abstraktionen?
Was die derzeit überall und hitzig geführten Debatten zu Identität und Minderheitenschutz so schwierig macht, ist der Umstand, dass eine Debatte eben kaum möglich ist, weil heftige Gefühle die Sicht vernebeln. Hohe Emotionalität meint gleichzeitig hohe Irrationalität. Ratio, Vernunft, also eine vernünftige, sachliche Auseinandersetzung, kann so nicht stattfinden. Würde der Gradder jeweiligen Empfindlichkeit, Empörung und des Entsetzens eigener Betroffenheit auf einem Fieberthermometer angezeigt, dann wären die Werte aus medizinischer Sicht besorgniserregend, weil lebensbedrohlich.
«Die ursprünglicheOrdnung von Männern hier (oben) und Frauen dort (unten) ist einem Chaos gewichen, in dem sich niemand mehr zurecht findet.»
Ich frage mich deshalb, erstens: Wie konnte es zu dieser Ausgangslage kommen, und zweitens: Wem ist damit gedient?
Fangen wir mit der zweiten Frage an: Da ist dieEmpörung. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit werden Begebenheiten/Vorkommnisse zu Skandalen aufgemotzt: Absagen von Anlässen, weil die falschen Leute eingeladen sind, oder der Veranstaltungstitel beleidigt ist oder eine Minderheit ausgrenzt. ‘Shitstürme’, weil jemand einen falschen Begriff in falschem Zusammenhang gebraucht oder seit Jahren verwendet oder sich im Ton vergriffen hat. Kinder dürfen nicht mehr «Indianerlis» spielen. Und «Zehn kleine Negerlein»zu singen, ist nun verboten (um nur ein paar Beispiele zu nennen).
Bei dem allgemeinen Getöse geht unter, dass da ein grosses Geschäft blüht. Das heisst: je aufgeregter und aufregender ein entsprechender Schlagabtausch stattfindet, (im Netz und natürlich anonym), desto mehr Klicks werden in der virtuellen, medialen Welt erzeugt. Das bringt Quote. Wenn Nachrichten ‘viral’ gehen, wie man heute sagt, das heisst, etwas geht im Netz in Windeseile um die ganze Welt, dann verdienen daran viele Leute sehr viel Geld. Anstand, Höflichkeit, Wohlwollen und Nachsicht verkaufen sich vergleichsweise schlecht. Es bringt mehr ein, wenn niedrigste Instinkte provoziert und bewirtschaftet werden.
Aber diese Antwort bringt uns nicht viel weiter, weil die Bewirtschaftungsmaschinerie wie geölt läuft. Und selbst, wenn wir den Hebel finden würden, sie abzustellen, die Gegenwehr derjenigen, die sie am Laufen halten wollen, wäre wohl unüberwindbar.
Deshalb bin ich auch eher an der ersten Frage interessiert: Wie kommt es zu einer so aufgeladenen Stimmung, dass der kleinste Funke ständig ein Feuer entfachen kann – und sei es auch nur ein Strohfeuer. Die Masse dieser Feuerchen aber machen den Eindruck oder geben uns das Gefühl, «die Hütte brennt» … und niemand weiss, wie löschen.
Und wieder finde ich bei der Individualpsychologie Antworten: Erfahrungen des Nicht-Dazugehörens, des Ausgegrenzt-seins und schliesslich der Respektlosigkeit sind schmerzlich und nachhaltig. Und so mag der so Verletzte reagieren: «Wenn du glaubst, du brauchst mich nicht zu respektieren, indem du mich ignorierst, mir keine Wertschätzung entgegenbringt, dann werde ich Dir zeigen, wie sich das anfühlt.»
In der Individualpsychologie – innerhalb des Konzeptes der ‘Irrtümlichen Nahziele’ – reden wir auf dieser Eskalationsstufe vom Bedürfnis ‘zurückzuverletzen’, dem Wunsch nach Rache. Wer sich nicht wahrgenommen sieht, nicht zählt, wird sich so verhalten, dass man mit ihm ‘rechnen’ muss. «Wie du mir, so ich dir.»
Mir kommt es je länger je mehr so vor, als würde der Druck und damit auch die Angst der Menschen immer grösser. Und Gewalt – verbal, aber auch physisch – erweist sich als Ventil. Könnte es sein,dass viele Menschen bereits über viele Jahrzehnte Druck und Angst aushalten mussten. Viele haben in ihren Familien, an ihren Arbeitsplätzen und in der Gesellschaft schmerzliche Erfahrungen gemacht: Scheidungen, Arbeitsplatzverlust, Fremdheitsgefühle in der eigenen Umgebung, Desorientierung in einer sich immer schneller wandelnden Welt, und Verantwortliche scheinen keine Verantwortung mehr zu übernehmen. Über sehr langeZeit wurden negative Gefühle tapfer weggesteckt,verdrängt oder auch kompensiert mit Ablenkung jeder Art: Süchten Konsumrausch, Social Media-Abhängigkeit. Das Thema, die vielen Themen und Betroffenen, ihre Beobachtungen, Erfahrungen, Befindlichkeiten und Ansprüche und die Verbreitung und Geschwindigkeit, die mit den neuen Medien möglich geworden sind, sind Ausdruck von Verletzungen, um die sich lange nicht gekümmert wurde. «Gewalt ist eine Reaktion auf Zustände, die unerträglich geworden sind.»2 Ist esmöglich, dass sich da eine Schmerz-Angst-Hass-Rache-Gewalt-Schraube in unsere Gesellschaft gedreht hat? Der Zeitgeist mit seiner Konzentration auf das ausschliesslich Finanzielle und Materielle hat unsere Seelen verkümmern lassen. Ständiger Wettbewerb und drohende Konkurrenz stressen, haben den einzelnen, aber schliesslich auch unsere Gesellschaft ermüdet, krank gemacht.
«Keiner weiss mehr so recht, welche Spielregeln gelten, und ob neue, ins Spiel gebrachte Spielregeln, sinnvoll sind.»
Dass es so respektlos, so brutal, so hemmungslos zu- und her geht, wenn die Menschen sich heute über etwas aufregen, hat mit ihrer psychischen Verfassung zu tun. Wir verbinden Revolutionen mit dem Aufstand von Massen auf der Strasse. Was, wenn sich im virtuellen Untergrund eine Art Bürgerkrieg zusammenbraut, dessen Ausmasse niemand übersieht, weil wir immer noch glauben,dass es sich um eine Minderheit, um Ausnahmenhandelt? Was wenn nicht? Wer soll die Schäden flicken, die Menschen trösten, die Wunden heilen? Kürzlich habe ich irgendwo gehört oder gelesen: «Die Armee der Zukunft wird aus Psychiatern und Psychologen bestehen.»
1 Ina Prätorius, Theologin und Begründerin der Bewegung«Wirtschaft ist Care», hat diesen Begriff geprägt
2 Aus «In den Schuhen des Fischers», Film von 1969
David Zeindler
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