Elli von Planta
«Keine Panik auf der Titanic» – das ist einer dieser flotten Sprüche, die die Dinge, Stab- oder ungereimt, mit (Wort-) Witz und in aller Kürze auf den Punkt bringen. Der Punkt hier: Jemand, der allen Grund hat, Angst, ja Panik zu haben, soll beruhigt werden. Cool, könnte man meinen, aber bei näherem Hinsehen ist dieser Spruch eigentlich eine Frechheit: Da vergeht jemand vor Angst und das, weil die Aussicht, sterben zu müssen, sehr wahrscheinlich ist. Und irgend so ein James Bond oder McGyver-Typ tut so, als sei das gar nicht so schlimm: Er bastelt jetzt nämlich aus Schuhcreme, einem Stück Schnur und anderen praktischen Dingen, die er zu diesem Zweck immer in seiner Hosentasche mit sich führt (samt Schweizer Sackmesser), eine Leuchtrakete oder … ein Floss. Und alles wird gut.
In der Oberstufe meines humanistischen Gymnasiums in der norddeutschen Provinz hatten wir einen Deutschlehrer, der meinte: «Es gibt nur eine Angst: Die Angst, etwas zu verpassen.» Und vielleicht liesse sich ja wirklich jede Angst so weit zu Ende denken, bis man bei der ultimativsten aller Ängste, der Todesangst, angelangt ist, und da scheint diese Aussage – auf den ersten Blick – sogar plausibel. Aber selbst wenn man alle Ängste aufs «Verpassen» reduzieren könnte, dann scheitert diese Reduktion doch schon bei dem Vergleich der Angst eines Städters ohne Balkon vor einem Schlechtwetterwochenende mit derjenigen einer Bäuerin, deren Existenz von genügend Niederschlag für ihre Felder abhängt. Jedenfalls ist unserer Angst mit diesem flapsigen «Na? Angst, ’was zu verpassen?» nicht beizukommen.
Was diese Beispiele zum Ausdruck bringen sollen: Menschen, die mit Psychologie nicht so viel «am Hut» haben, eiern sofort ziemlich ’rum, wenn es um Angst geht. Über Ängste wird deshalb am liebsten auch nur hinter vorgehaltener Hand und verschlossenen Türen geredet – eben bei und mit Psychologen und Therapeuten. Kommt man dahinter wieder hervor (hinter den vorgehaltenen Händen und verschlossenen Türen), dann wurden – im besten Fall – aus diffusen Angstgefühlen, Bedrohungen. Diese sind klarer und konkreter zu benennen. Ihnen entlang können dann Ideen, Vorschläge und Massnahmen zu ihrer Beseitigung oder Bekämpfung an die Hand genommen werden.
Für das Individuum bietet die IP ein patentes Verständnis-System an, weil sie menschliches Verhalten auf logische – psycho- und privatlogische – Weise erklärt, was auch heisst, dass jeder und jede von uns mit Angst und Unsicherheit anders umgeht. Wir nennen das lebensstil-typisch. Oder, um es mit einem spanischen Sprichwort zu sagen, «Cada loco con su tema.» (Jeder spinnt anders.) Damit ist die sehr individuelle Programmierung unserer seelischen Festplatte gemeint. Und wenn wir Angst haben, wenn wir unter Druck geraten, dann übernimmt unser «automatische Pilot» die Steuerung und gibt die entsprechenden (lebensstil-typischen) Steuerungsanweisungen: Sie können destruktiv, unvernünftig und allenfalls aggressiv (‚schwarz‘) oder konstruktiv, sinnvoll und mutig (‚weiss‘) sein. Oder sie bewegen sich variantenreich in der grossen (‚grauen‘) Mitte.
«Über Ängste wird am liebsten nur hinter vorgehaltener Hand und verschlossenen Türen geredet.»
Ich möchte mich hier – für den Moment – auf das konzentrieren, was vor den verschlossenen Türen, ausserhalb der geschützten Räume zu Angst zu lesen oder auch zu beobachten ist. Das Thema ist umfassend, eine Auswahl zu treffen, deshalb gar nicht so einfach:
Und damit wäre ich schliesslich dort angelangt, wo ich doch eigentlich hin wollte: In unserer Zeit. In der Corona-Zeit, bei unseren Ängsten hier und heute; kollektiv, politisch, soziologisch aber dann eben doch individuell und individualpsychologisch.
Im 21. Jahrhundert gibt es (statt ein paar Hundert Millionen vor ein paar hundert Jahren), 8 Milliarden Menschen auf der Welt. Diese Welt ist zum Dorf geworden, bei einer weltweiten Alphabethisierungsrate von 86,3 % (2015 – jüngere Zahlen konnte ich nicht finden – Frauen: 82,7 %, Männer 90,0 %), ausgestattet mit PCs, IT, Facebook, Twitter und Co.. In dieser säkularisierten, demokratischen und rasend schnellen Welt sind die Menschen für ihren Halt nun im Wesentlichen selbst zuständig. Dabei sind wir selbstbezogen und somit auch einsamer geworden – individualisiert eben, und mit unseren Ängsten mehr und mehr allein. Der Zeitgeist, verstärkt durch die Überbetonung alles Ökonomischen und Materiellen, hat uns zudem suggeriert, ständig Herr der Lage sein, alles unter Kontrolle haben zu müssen, uns für alles und jedes jederzeit fit und funktionstüchtig zu halten und jedwede Schwäche auszumerzen, auszublenden, zu verdrängen. Getoppt wird das Ganze mit der Angst, Angst nicht zugeben zu dürfen.
«Wenn wir Angst haben, dann übernimmt unser „automatischer Pilot“ die Steuerung und gibt die entsprechenden (lebensstil-typischen) Steuerungsanweisungen»
Die nach wie vor nicht ausgestandene Corona-Krise hat uns alle bedroht. Die Unsicherheit war – und ist zum Teil – immer noch gross, weil sie jeden Bereich unseres Lebens, unseres Landes, unserer Welt erfasst hat, und auch, weil niemand wirklich weiss, wie es weitergehen wird. Krise bedeutet:
«Alles… ausser Kontrolle», weshalb den meisten Menschen der Kontrollverlust am schwersten zu schaffen macht: Das beängstigende Gefühl von Abhängigkeit, Ausgeliefert-sein, Machtlosigkeit.
Wir sind in erster Linie soziale Wesen. Menschen brauchen Menschen – mehr oder weniger ausgeprägt, aber doch grundsätzlich. Adler hat eine Philosophie entwickelt, die erklärt, dass und wie uns unser persönliches Wohlbefinden vom Wohlbefinden der Gemeinschaft abhängig macht, und dass wir verlorenes Wohlbefinden wiederfinden können, wenn wir nützlich und tätig für diese Gemeinschaft sind. (Deshalb kann Angst in der Regel durch Tun und Tätig-sein verscheucht werden, mindestens für den Moment.) Als soziale Wesen und innerhalb der Gemeinschaft wollen sodann folgende Grundbedürfnisse befriedigt werden, über die uns unsere Gefühle Auskunft geben: Das Gefühl der Zugehörigkeit, der Selbstbestimmung (Kontrolle), der Wertschätzung (Respekt/Bedeutung) und das Gefühl von Zuversicht (Mut). Aus diesen Grundbedürfnissen bzw. -gefühlen – so sie denn befriedigt sind – entstehen oder ergibt sich das Gemeinschaftsgefühl: Wir fühlen uns aufgehoben, leisten unseren Beitrag entlang dessen, was wir wissen und können, woraus die Bedeutung und Wertschätzung resultiert, die uns zuversichtlich sein lässt.
Wenn wir diese Bedürfnisse in der Gemeinschaft befriedigt finden, dann können wir auch verstehen, warum sich Menschen in ihrer Angst, Frustration oder auch in ihrem Groll und Unverstanden-sein nicht nur in traditionelle Gruppen begeben (Vereine, Kirchen, Nachbarschaften), die ihnen obige Gefühle vermitteln: «Du gehörst zu uns. Wir werden Einfluss nehmen, uns dies und jenes nicht gefallen lassen. Wir schätzen Deinen Beitrag, Dein Mitmachen bei uns.» Es schliessen sich auch Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, Impfgegner, Staatsverdrossene und Unsichere zusammen, um so ihre Ängste und einen (auch nur vermeintlichen) Kontrollverlust zu bewältigen. Auch Gruppen wie der Islamische Staat, rechtsradikale Rassisten oder religiös-fanatische Gruppierungen operieren mit den Werten der Gemeinschaft und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Abweichler werden allerdings bedroht, verfolgt, bestraft. Ungesunde Gruppen machen ihre Mitglieder unselbständig, schreiben ihnen vor, was sie zu denken und fühlen haben, fordern sie zur Abgrenzung, zur Diskriminierung auf. Das endet in der Regel immer in irgendeiner Form von Gewalt.
Die Gesundheit einer Gruppe oder Gemeinschaft ist schliesslich daran zu messen, wieweit sie des Respektes fähig ist; dass sie Andersartiges und anders Denkende nicht verachtet, bekämpft, diskriminiert. Sie hält Meinungsverschiedenheiten aus, führt Debatten, in denen Gegensätzliches ausdiskutiert und argumentiert wird, und streitet darüber, welcher Weg zu einem Ziel der bessere ist.
Ob wir selbst auf sicherer oder allenfalls instabiler Unterlage unterwegs sind, ob wir eher friedfertig oder feindselig reagieren, allenfalls zu Gewalt neigen oder zur Souveränität fähig sind, erfahren wir, wenn wir uns auf den Weg der Selbsterkenntnis machen, wenn wir unseren automatischen Piloten befragen; herausfinden, warum und wovor wir Angst haben und wie wir uns benehmen, wenn wir unter Druck geraten.
David Zeindler
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