24.7.2024

SAFE – Was Kinder brauchen

Lisa Werthmüller

SAFE – ein sicherer Ort für Kinder
Kinder und Jugendliche brauchen eine Kind- und Jugendgerechte Umgebung - dazu eine beziehungsorientierte Begleitung. So einfach! Wir sollten alles daran setzen, eine Umgebung für sie zu ermöglichen, in der sie sich psychisch gesund entwickeln können.

Lisa Werthmüller hat eine Rezension zur TV-Serie SAFE geschrieben, die seit Oktober letzten Jahres im ZDF läuft. Dabei belässt sie es nicht bei einer Beurteilung. In einem weiteren Schritt macht sie konkrete Vorschläge für praktische Handlungsanweisungen. Ihr Appell: Kind- Jugendgerechte Umgebung und beziehungsorientierte Begleitung statt mehr Therapieplätze.

 

SAFE – Was Kinder brauchen

Die Serie

Die TV-Serie mit dem Titel «SAFE» von der Oscar preisgekrönten Regisseurin Caroline Link, erstmals erschienen im Oktober 2022 im ZDF, hat besondere Aufmerksamkeit verdient.

Die acht Episoden sind in der ZDF-Mediathek verfügbar. Es geht es um vier Kinder zwischen 5 und 16 Jahren, die mit ihren Auffälligkeiten in eine psychotherapeutische Praxis kommen. Rasch tauchen wir in die individuellen Lebenswelten von Ronja, Sam, Jonas und Nellie ein, in vier unterschiedliche Geschichten mit ihren Schwierigkeiten, in denen sie sich befinden. Die inszenierten Therapiesitzungen sind packend, emotional und berührend.

 

Obwohl viel gesprochen wird, ist es die Atmosphäre, die die zwei Therapeut*innen Katinka und Tom schaffen und die zwischen ihnen und den ihnen anvertrauten jungen Menschen entsteht, die beeindruckt. Es geht gar nicht so sehr um das, was gesagt wird, sondern mehr um Blicke und Gesten, um das Unausgesprochene – das, was zwischen den Zeilen steht – und den Kindern und Jugendlichen signalisiert: Du bist okay, so wie du gerade bist.

 

Diese Kinder begegnen hier Menschen, die einen anderen Blick auf Kinder und Heranwachsende haben und ihnen mit einer anderen Haltung gegenübertreten. Jene Haltung, bei welcher es nicht um das Verhalten oder ihr Benehmen geht. Sie werden nicht korrigiert, kritisiert, bewertet, verbessert und erzogen, sondern erleben eine vertrauensvolle und haltgebende Beziehung. Gerade weil sie in der Vergangenheit mit ihrem Verhalten aufgefallen und angeeckt sind und erzieherische Massnahmen erlebt haben, sind sie stark verunsichert. Hier sind alle Gefühle erlaubt, ohne mit einer Konsequenz rechnen zu müssen. Sie dürfen sie selbst sein, so wie sie sind, und das ist ein völlig neues Erleben im Umgang mit Erwachsenen.

 

Nebst der vielen Einblicke in die wertvolle und wirksame, psychotherapeutische Arbeit, stimmt die Serie auch nachdenklich, weil sich bei genauerem Hinschauen offenbart, dass Kinder oft erst in der Therapie auf Menschen stossen, die ihnen so begegnen, dass ihre emotionalen Defizite, die in ihrer Entwicklung entstanden sind, nachgenährt werden können.

Was können Eltern, Erzieher, Lehrer bei der Serie lernen?

Wenn wir unser Schulsystem näher betrachten, fällt auf, dass bereits der Kindergartenalltag von Bewertungen, Vergleichen, Stärken und Schwächen, Beurteilung und Vorurteilen geprägt ist. Der Bildungsauftrag auf Kindergartenstufe, basiert in seiner Grundstruktur auf Bewertungs- und Beurteilungsprozessen. Deshalb liegt es nahe, dass der Fokus vermehrt auf das Verhalten von Kindern gerichtet ist.

 

Nur wenn wir offen, unvoreingenommen und mit echtem Interesse und Verständnis im Dialog mit Kindern und Jugendlichen sind, haben wir eine Chance, an ihrer Erlebniswelt teilzuhaben und das, was hinter ihrem Verhalten steckt, im Perspektivwechsel zu sehen und zu verstehen.

 

Alle Menschen und insbesondere Kinder, haben das Bedürfnis, ihre Gefühle zu verstehen und im miteinander mit anderen Menschen verstanden zu werden. Nur echtes authentisches Verstehen und die Wertschätzung, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist, kann dazu führen, dass sich Kinder anfangen selbst zu verstehen.

 

«Statt mehr Therapieplätze für Kinder und Jugendliche zu schaffen, sollten wir alles daran setzen, eine Umgebung für sie zu ermöglichen, in der sie sich psychisch gesund entwickeln können.»

 

Wenn wir also nicht so sehr das Verhalten in den Vordergrund stellen und darauf mit einer Massregelung reagieren, sondern das Verhalten als ein wertvolles Signal für innere zugrunde liegende Ursachen erkennen, können wir im Perspektivwechsel das Gefühl, welches das Verhalten motiviert, verstehen.

 

Vermeintliche «Verhaltensauffälligkeiten» in Kindergarten und Schule nehmen zu. Aus entwicklungspsychologischer Sicht liessen sie sich zu einem grossen Teil verhindern, wenn wir uns von kollektiven Erziehungsstimmen in uns und dem bewertenden (Schul-) System frei machen würden. Es sieht so aus, als würden herkömmliche Erziehungsmassnahmen eine gesunde emotionale Entwicklung hemmen.

 

Sozio-emotionale Kompetenzförderung in Kita, Kindergarten, Schulen und Institutionen könnten da eine wichtige Rolle spielen und präventiv wirken.

 

Eigene Bindungs- und Beziehungserfahrungen in der Kindheit der Bezugspersonen spielen ebenfalls eine Rolle. Kinder besser zu verstehen, heisst auch immer, sich selbst besser zu verstehen.

 

Die emotionale Entwicklung von Kindern ist ein langer Prozess, der sich bis nach der Pubertät und darüber hinaus fortsetzt. Damit Kinder sich emotional entwickeln können, sind sie auf erwachsene Menschen, die über ausgereifte Hirnstrukturen verfügen, angewiesen, da sie sich selbst und ihre starken Gefühle noch nicht selbst regulieren können. Sie brauchen nahe Bezugspersonen, die sie co-regulieren.

 

Wie es sein sollte

Wenn also bereits der Kindergarten ein Ort wäre, indem sozio-emotionale Kompetenzen gefördert würden, indem auf Bewertung und Beurteilung verzichtet wird, weil

  • emotionale Grundbedürfnisse wie Autonomie (Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung), Verbundenheit (Sehnsucht nach Verbindung, Kontakt, Zuwendung) und Sicherheit (ich habe meinen Platz, ich bin wertvoll etc.), erkannt und beantwortet würden,
  • Verhalten nicht als störend oder auffällig taxiert würde,
  • der defizitäre Blick einem konstruktiven und wohlwollenden weichen könnte,
  • nicht mit Massnahmen, Regeln und Konsequenzen – mit Belohnung und operanten Konditionierungen, mit positiven und negativen Verstärkern gearbeitet würde,
  • das Verhalten nicht an ein von uns gewünschtes Verhalten angepasst würde,
  • von dem Gedanken, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt, abgesehen würde, sobald es nicht der «Norm» entspricht,
  • entwicklungsgerechtes Verhalten wie Aggression als das anerkannt würde, was es ist, nämlich eine Reaktion auf ein emotionales Bedürfnis,
  • wir vom Gedanken, dass das Kind «erzogen» werden muss und Wutanfälle oder aggressives Verhalten zu unterbinden wäre,
  • von überhöhten Erwartungen abgesehen würde.

Erwartungen wie:

  • was das Kind bereits alles können soll, wie das Kind sich in bestimmten Situationen verhalten soll,
  • dass das Kind in der Lage sein soll, mit starken Gefühlen umzugehen,
  • dass das Kind den Umgang mit Frustration beherrschen soll,
  • dass das Kind sich selbst regulieren soll etc.

Wenn all diese Voraussetzungen geschaffen würden, dann glaube ich, würden Kinder im Kindergarten und in der Schule lernen: Ich bin okay, so wie ich bin. Meine Anliegen werde gesehen und gehört. Ich werde ernstgenommen. Ich darf meine Autonomie ausleben. Ich bin es wert, dass man auf mich hört. Dass man daran interessiert ist, was ich fühle und denke.

Die Kinder und Jugendlichen dürften lernen, dass sie angenommen und wertvoll sind, dass sie ihre Gefühle nicht unterdrücken müssen. Dass ihre eigene Grenze genau so viel wert ist, wie die Grenze des anderen. Sie werden zu Erwachsenen, die sich selbstwirksam und von sich aus als wertvoll erleben, ohne dass sie auf Bestätigung oder Reize von aussen angewiesen sind. Sie werden zu emotional satten erwachsenen Menschen – Grundvoraussetzung für psychische Gesundheit.

Emotional satte Kinder, werden psychisch gesunde Erwachsene. Lasst uns unsere Kinder bindungs- und beziehungsorientiert begleiten und den antiquierten Erziehungsmodellen und Methoden den Rücken kehren. Dazu braucht es uns alle: Eltern, Grosseltern, Lehrpersonen, Pädagogen, Bildungsinstitute und die Politik.

Deshalb hier mein Appell: Unsere Aufgabe muss es sein, statt mehr Therapieplätze für Kinder und Jugendliche zu schaffen, sollten wir alles daran setzen, eine Umgebung für sie zu ermöglichen, in der sie sich psychisch gesund entwickeln können.

 

Lisa Werthmüller ist Dipl. Psychosoziale Beraterin, Elterncoach in eigener Praxis und Sozialpädagogische Familienbegleiterin und Autorin von diversen Artikeln zu einem bindungs- und beziehungsorientierten Umgang mit Kindern. Mit ihrer Beratung unterstützt sie Erwachsene im Alltag dabei, das Verhalten von Kindern besser zu verstehen und die konstruktive Beziehung, anstelle klassischer Erziehungsmethoden in den Mittelpunkt zu stellen.

Lisa Werthmüller

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