Ursula Limacher
Ursula Limacher beschreibt, wie sich adlerianische Prinzipien in ihrem Arbeitsbereich nicht nur durchgesetzt haben, sondern sich vor allem auch bewähren.
traversa ist das Netzwerk für Menschen mit einerpsychischen Erkrankung in den Kantonen Luzern, Obwalden und Nidwalden. Rund 100 Mitarbeitende aus den Bereichen Psychiatriepflege, Sozialpädagogik oder Sozialarbeit begleiten betroffene Menschen und ihre Angehörigen. Dazu können diese in einem unserer 6 Wohnhäusermit Rundumbegleitung leben. Oder sie nehmen eines unserer ambulanten Wohnangebote in Anspruch, regeln ihre persönlichen Angelegenheiten zusammen mit unseren spezialisierten Sozialarbeiterinnen und/oder strukturieren ihre Tage im Tageszentrum
«Die Haltung Recovery beschreibt eine hoffnungsvolle Grundhaltung gegenüber psychischer Erkrankung.»
Das Konzept, welches unsere Arbeit bei allen verschiedenen Aufgaben leitet, heisst Recovery. Recovery – das englische Wort für Wiederherstellung, Rückgewinnung – ist eine menschen-(statt diagnose-) bezogene, zuversichtliche Haltung zu den Prozessen unserer Psyche. Eine recovery-orientierte Einstellung weiss, dass wir eigene Wege gehen können, dass wir fähig sind, Umgang mit unseren Krisen und Entwicklungenzu finden, dass wir selbstkompetent und selbstwirksam sind. Die Haltung Recovery beschreibt eine hoffnungsvolle Grundhaltung gegenüber psychischer Erkrankung.
«Der Fokus liegt auf den Stärken, Fähigkeiten und Potenzialen und nicht auf den Defiziten»
In der Recoveryhaltung finde ich ganz vieles, was sich aus der Individualpsychologie kenne. Wir sind in unserer Arbeit auf Augenhöhe mit den Klient:innen. Die Haltung der Gleichwertigkeit ist dafür Voraussetzung.
Klient:innen kennen sich selber und ihr Erleben am besten. Wir ermutigen sie, dies als Stärke zusehen und daraus Potential zu schöpfen.
Es ist uns wichtig mit dieser Einstellung die Klient:innen immer wieder ihre Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Dies unter anderem auch deshalb, damit sie trotz Erkrankung weitgehend selber über ihr Leben bestimmen können.
In der allgemeinen Methodik zur IP-Psychotherapie von Viktor Louis habe ich gelesen, dass das Therapieziel nicht bedingungslose Anpassung sei, sondern das «Erleben einer Mitbeteiligung am öffentlichen gesellschaftlichen Geschehen in Mitverantwortung für diesen Prozess».
In dieser Aussage sind ebenfalls zwei Schlüsselbegriffe unserer Arbeit bei traversa versammelt.
Mitbeteiligung und Mitverantwortung. Diese Begriffe sind für unsere Arbeit zentral. Sie finden sich auch in der Behindertenrechtkonvention der UNO (UN BRK), welche von der Schweiz 2014 ratifiziert wurde.
Es geht in der UN BRK um die Forderung nach Teilhabe und Teilnahme aller Menschen – auch jener mit einer Einschränkung – an der Gesellschaft. Und zwar so, dass nicht die Menschen mit Behinderung sich anzupassen haben und quasi fit werden sollen, um in unserer Leistungsgesellschaft zu bestehen, sondern dass wir als Gesellschaft die Aufgabe haben, eine Umwelt und Bedingungen herzustellen, die es Menschen mit Behinderung möglich machen, teilzunehmen und Teil zu sein. «Nichts über uns ohne uns» heisst das Hauptmotto der UN BRK.
«Meine Erfahrung in meinem Arbeitsumfeld bei traversa zeigt mir immer wieder, dass die Individualpsychologie nach Alfred Adler auch heute eine topaktuelle Psychologie ist.»
traversa führt jedes Jahr eine «inklusive» Fachtagung durch. Diese ist offen für Fachpersonen durch Ausbildung, Fachpersonen durch Erfahrung und Angehörige. Jedes Jahr kommen ca. 220 Personen zusammen, die sich mit einem Thema auseinandersetzen und ihre unterschiedlichen Standpunkte je nach Betroffenheit mitbringen. Und – für uns selbstverständlich – sitzt auch eine Peer1 Person in der Arbeitsgruppe, welche dieseTagung plant und durchführt.
Betroffene Menschen sollen zu Beteiligten werden, die so an der Gesellschaft einen Beitrag leisten können. So wird ihr Zugehörigkeitsgefühl und Selbstwertgefühl gestärkt. Und damit erhöht sich die Chance, aus der Opferrolle aussteigen zu können und echte Kooperation zu leben. Das ist guter Boden für ein gestärktes Gemeinschaftsgefühl.
Die Kultur des Umgangs mit Menschen auf Augenhöhe ist für uns ebenfalls handlungsleitend in den Kontakten unserer Organisationnach aussen. Wir arbeiten im Auftrag der Kantone bzw. teilweise des Bundes. Auch bei diesenKontakten bewahrheitet sich das Sprichwort «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus».
Die Kontinuität einer freundlichen, gleichwertigen und verlässlichen Beziehung ist gewinnbringend für alle Beteiligten. Das ist ein Gegenbild zur heuten Tendenz, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ein Ziel erreichen zu wollen, «koste es, was es wolle.» Und die Kosten sind tatsächlich hoch und im Steigen begriffen. Mittlerweile wird fast jede Person im Laufe ihres Lebens mit psychischer Erkrankung konfrontiert, im eigenen Erleben oder in der nahen Umgebung.
Das «Koste es, was es wolle» müssen wir uns also gut überlegen. Dies mag marktwirtschaftlich die taffere Haltung sein, und monetäre Profite sind mit grösster Wahrscheinlichkeit schneller zu erreichen. Aber die Frage ist doch, ob diesunseren Vorstellungen einer attraktiven menschlichen Gesellschaft entspricht?
Meine Erfahrung in meinem Arbeitsumfeld bei traversa zeigt mir immer wieder, dass die Individualpsychologie nach Alfred Adler auch heute eine topaktuelle Psychologie ist. Vielleicht scheinen uns einige der Begriffe etwas veraltet.
Inhaltlich ist die Individualpsychologie prädestiniert, eine Haltung im Umgang mit anderen Menschen zu definieren, die freundlich, wertschätzend und ermutigend ist. Ich bin überzeugt, mehr davon täte unserer Welt sehr gut!
Ursula Limacher, geboren 1961, lebt in Luzern, hat vier erwachsene Kinder und vier Enkelkinder. Sie ist diplomierte Kinderkrankenschwester, diplomierte individualpsychologische Beraterin/SGIPA mit einem MAS in Philosophie und Management der Universität Luzern. Seit acht Jahren ist sie Geschäftsleiterin bei www.traversa.ch
1 Peer: Unter Peers verstehen wir bei traversa Menschen, die eine eigene Krankheitserfahrung mitbringen und diese in einer Weiterbildung zusammen mit anderen Betroffenen reflektiert haben.
David Zeindler
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