20.3.2024

Psychische Gesundheit in der Schweiz

Roger Altmann


Personalmangel – Peers als Hoffnungsträger
INGA ein neues Modell. Peers sind nicht die Lösung der psychischen Probleme in unserer Gesellschaft – sie sind ein Teil der Lösung.

Peers1 als Hoffnungsträger – INGA2 ein neues Modell

Die Zahlen zur psychischen Gesundheit der Schweiz belegen, dass Umfang und Kosten psychischer Krankheiten zunehmen. Der Personalmangel speziell auch in diesem Bereich lässt Verantwortliche unkonventionelle Ansätze zur Betreuung finden: Partizipative, integrative und personenzentrierte Versorgung.

In naher Zukunft ist denkbar, dass ambulante Psychologische Berater, Psychotherapeuten und Psychiater – wie die Spitex seit kurzer Zeit – vermehrt auf das Erfahrungswissen von Peers zurückgreifen werden; in Abwandlung eines Zitats von Bernhard Shaw: «Die Weisheit eines Menschen misst man an seiner Erfahrung und an seiner Fähigkeit, mit Erfahrung umzugehen». Der Reihe nach:

 

Die Schweiz funktioniert gut! Trotzt vergangener Pandemie und widriger Umstände (wirtschaftlich herausforderndes Umfeld und Lieferengpässe) hat sich die Binnenwirtschaft und das Bruttoinlandprodukt (BIP), mit einer Bandbreite von rund 700 bis 800 Milliarden CHF in den Jahren 2019 bis 2021, gut entwickelt. Das reale BIP hat von Ende 2019 bis 2022 sogar vier Indexpunkte dazugewonnen. Zudem herrscht in der Schweiz mit rund 2 Prozent Arbeitslosigkeit nahezu Vollbeschäftigung (der mehr als 5 Millionen erwerbstätigen Menschen, mit einem geschätzten Anteil von 80 Prozent resignativ3 zufriedener Personen).

Roger Altmann

   

Demgegenüber sind die erfassten Gesundheitskosten 2021 auf etwa 12 Prozent vom BIP angestiegen, also knapp 90 Milliarden CHF. «Burn-out kostet die Schweiz 18 Milliarden Franken im Jahr» Titelt die CTS-Group4 2009 im KMU-Magazin, wobei hier auch von nicht erfassten Kosten berichtet wird. Und von 2012 bis 2020 haben die Arbeitsausfälle um 50 Prozent zugenommen, meist als Folge von Burn-out und Depression. Vor der Pandemie betrug die Prävalenz5 psychischer Krankheiten in der Schweiz um die 25 Prozent, nach der Pandemie präsentiert die OBSAN Omnibusserhebung6 vom Herbst 2022 ganze 35 Prozent. Zu beachten ist hier, dass betroffene Menschen in stationären Einrichtungen, wie Spitälern und Pflegeheimen, in der Erhebung nicht erfasst sind – also eine erhebliche Unterschätzung der Zahlen vorliegt. Über 50 Prozent geben an, an keinem der abgefragten Symptome zu leiden. Positiv betrachtet fühlt sich die halbe Wohnbevölkerung der Schweiz vital und voller Energie.

 

Struktur der Psychischen Gesundheit

Im Herbst 2022 (vgl. OBSAN)7 zeigen 36 Prozent der jungen Frauen und «nur» 15 Prozent der jungen Männer schwere Symptomausprägungen. Demgegenüber gibt es 44 Prozent sehr zufriedene Menschen ab 65 Jahren (bei den Jungen ab 15 bis 54 Jahren sind es 20 bis 30 Prozent). Nebst Alter und Gender sind in diesem Zusammenhang weitere wichtige Faktoren massgeblich: Bildung, Migration, verdeckte Arbeitslosigkeit, insbesondere die Arbeitsunfähigkeit, das Nord/Süd-Gefälle (deutschsprachige Schweiz zu

   

französisch- oder italienischsprachigen Regionen) etc. sowie die Umstände sozialer Unterstützung. Psychische Störungen gehören zur Kategorie der nichtübertragbaren Krankheiten, sogenannte Non-Communicable Diseases (NCD). Ich bin jedoch der Meinung, dass psychische Störungen nicht nur, aber in höchstem Masse sozial übertragbar sind. Fehlende Unterstützung und Existenzängste, z.B. mangels Erwerbseinkommen, können eine hohe Stressbelastung darstellen, die durchaus ‚ansteckend‘ wirken kann.

«Die Einschätzung der Situation bezüglich psychischer Störungen und Auffälligkeiten gestaltet sich schwieriger. Aktuelle störungsspezifische Angaben für die Schweiz fehlen gänzlich und die Aussagekraft der Angaben zu psychischen Auffälligkeiten variiert stark nach Altersgruppe» (Nationaler Gesundheitsbericht 2020)8. Mangels aktueller, hiesiger Daten lassen sich die Prävalenzen psychischer Krankheiten besser aus dem Kontext der Europäischen Union (EU) ableiten. Hier die jährlichen Prävalenzen der EU (2015) in Prozent, vgl. ensa9 Handbuch:

    

  • Angststörungen, 14.0
  • affektive Störungen (Stimmungsstörungen), 7.8
  • Sucht (Alkoholabhängigkeit), 3.0
  • Psychotische Störungen, 1.2
  • Persönlichkeitsstörungen, 0.6-0.7

Von der stationären zur ambulaten Versorgung

Es existiert ein Trend von stationärer zur ambulanten Versorgung. Dieser hält z.B. auch im Kanton Bern an, und die ca. 500 öffentlichen, autonom agierenden Spitexeinheiten sollen zur Fusion angehalten werden. Vor einigen Jahren bemühte sich die Spitex insbesondere um die Pflege der Alten und um Somatik-Fälle. In den letzten Jahren sind neu Psychiatrieteams der Spitex wie Pilze aus dem Boden geschossen, anfänglich mit einer einzelnen Fachperson, heute z.B. mit 5 bis 15 Psychiatrie-Mitarbeitenden in kleinen und mittelgrossen Spitex-Organisationen.

«Ich bin jedoch der Meinung, dass psychische Störungen nicht nur, aber in höchstem Masse sozial übertragbar sind.»

Als Dienstleister bekommt die Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH immer wieder zu hören, dass die Fallzahlen zunehmen, zwischendurch aber auch stagnieren. Die Nachfrage nach ambulanter psychiatrischer Versorgung steigt. Ob die Pflegeinitiative hier Verbesserungen bringen wird, wird sich weisen. Wie auch immer, der Fachkräftemangel ist Alltag und dem Pflegepersonal ständig bewusst. Arbeitsökonomen sind allerdings der Meinung, dass es gar keinen Fachkräftemangel gäbe. Die unsichtbare Hand des Marktes würde es nach Adam Smith schon richten. Tatsache ist aber, dass der Markt reguliert und betreffend Angebot und Nachfrage nicht im Gleichgewicht ist. Budgets werden limitiert, Kosten der Pandemie auf Versicherte abgewälzt und einzelne Profite erzielt.

    

Das Krankenversicherungsgesetz, KVG, schreibt im Artikel 7a seiner Verordnung teuerungsrobuste Frankenbeträge vor, während wir es im Nachgang, seit der Finanzkrise 2008, wieder einmal mit einer Teuerung zu tun haben. Und im jurassischen Spital-Umfeld geht man regional mit Globalbudgets neue Wege zur Sanierung. Überlebt unser Gesundheitswesen die Umsetzung der nationalen Strategie (2020 bis 2030)? 10

Der silberstreifen am Horizont

Einige neue Trends zeichnen sich ab. Sie weisen in Richtung partizipative, integrative und personenzentrierte Versorgung. Der klientenzentrierte Ansatz nach Rogers11 wird durch eine personenzentrierte Sicht (Personen im Plural) auf das ganze Team, inklusive Klienten und System, ausgeweitet. Mit der Partizipation und Integration rückt auch der Gedanke einer gemeinsamen Behandlungspflege in den Vordergrund, weg von allgemeinen strikten Regelungen hin zur mit dem Patienten vereinbarten Therapiezielen, also einer Kommunikation auf Augenhöhe. Je länger, je mehr wird auch die kommunal vernetzte Versorgung wiederentdeckt – nebst der Komplementärmedizin. In der Praxis gewinnt die Recovery-Haltung12 an Bedeutung, welcher sich in wachsender Zahl auch Spitex verschreibt. In diesem Milieu ist der Nährboden geschaffen, um vorkassenpflichtige, niederschwellige Angebote gedeihen zu lassen.

«Einige neue Trends zeichnen sich ab. Sie weisen in Richtung partizipative, integrative und personenzentrierte Versorgung.»

Peers – die neuen Hoffnungsträger

Mit dem zwei Jahre jungen INGA-Projekt konnte die Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH und ihre Spitex-Partner mit aufsuchender Begleitung von Klienten durch Peers, im Wechsel und Tandem mit dem Pflegefachpersonal, neue Erkenntnisse zu Tage fördern.

 

Das Modell könnte zum neuen Hoffnungsträger werden. Mit Peers ist es bereits innerhalb von zwei Monaten möglich, eine Entlastung von 15 Prozent und somit eine Erleichterung für das gesamte Psychiatrie-Team zu bewirken. Zudem haben die Fachpersonen eine neue Ressource zur Hand: das Erfahrungswissen der Peers. So verbessert sich erstens das Stressgeschehen und die Qualität der Arbeit. Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden steigt spürbar, und die Personalfluktuation wird reduziert.

  

Mit der angewandten Begleitforschung durch die Berner Fachhochschule (BFH) wurde mittels dieser Pionierarbeit zweitens aufgedeckt, dass nach sechs Monaten Peer-Begleitung in drei Fällen die Lebensqualität der Klient:innen deutlich angestiegen war. Insgesamt stellte die Berner Fachhochschule (BFH) keine Verschlechterung durch die Peer-Begleitung fest. Drittens kamen die Peers mit ihrer Tätigkeit zu einer sinnvollen Arbeit im ersten Arbeitsmarkt. Daraus resultiert ein Gesamtnutzen für unsere Gesellschaft.

  

Fazit: Peers sind nicht die Lösung der psychischen Probleme in unserer Gesellschaft, sie sind ein Teil der Lösung. Sie helfen Lebenszufriedenheit, Glücklichsein, Selbstwirksamkeit, Selbstwert, Optimismus, einen Lebenssinn und so das psychische Wohlbefinden wiederzuerlangen. Und die ambulante Peer-Methode von Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH kann auch für Psychologische Berater, Psychotherapeuten und Psychiater eine Lösung sein.

«Peers sind nicht die Lösung der psychischen Probleme in unserer Gesellschaft, sie sind ein Teil der Lösung.»

Das ist natürlich eine viel zu grosse und komplexe Sache, die nicht handstreichmässig zu erledigen ist. Aber als Adlerianer:innen haben wir immerhin Anhaltspunkte für Erklärungen und auch Handlungsanweisungen, um Hand anzulegen. Um einen Anfang mit zuversichtlicher Ausrichtung zu machen: Jeder an seinem Platz hilft mit, das zu lösen, was die Situation erfordert.

   

Für das Gefühl von Sicherheit, um Vertrauen aufbauen und aufrechterhalten zu können, brauchen wir einen Platz. Wir müssen wissen, wohin wir gehören, dass wir wohin gehören. Ist dieses Gefühl nicht vorhanden, kippen wir in das Gefühl der Minderwertigkeit. Wer das Gefühl hat, klein, doof, schwach – eben minderwertig – zu sein, reagiert in der Regel so, dass das Verhalten schliesslich auch zulasten der Gemeinschaft geht. Das heisst, am Ende fühlt sich nicht nur der Einzelne klein, doof und schwach, sondern dieses Gefühl infiziert auch das Umfeld. Wir können das sehr hübsch daran beobachten, dass es im Moment viel medienwirksamer ist, sich als Opfer zu inszenieren und alle jene, die nicht genügend Rücksicht nehmen, als Täter zu schmähen.

   

Roger Altmann ist Master of Applied Science in Gesundheitsförderung und Business Administration, executive. Er ist Geschäftsführer der Netzwerkt Gesundheit Schweiz GmbH und Initiant des INGA-Projekts. Die Netzwerk Gesundheit Schweiz GmbH bietet Dienstleistungslösungen, Beratung und Begleitung für Profiorganisationen und Fachpersonal an. Sie ist ensa Partner der Schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana, NPG Mitglied Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz und die Geschäftsstelle des Vereines VFSPB (Förderprogramm und Sozialfonds für ambulante Peer-Begleitung psychische Gesundheit).

Für weitere Informationen: www.netzwerkgesundheit.ch

Bei Anregungen und Fragen: info@ngch.ch

Quellen

  • www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/psychische.html
  • www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/kosten-finanzierung.html
  • www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/volkswirtschaft/volkswirtschaftliche-gesamtrechnung/bruttoinlandprodukt.html
  • www.nau.ch/news/schweiz/arbeitsausfalle-durch-burn-out-in-der-schweiz-auf-rekordhoch-65642715
  • www.seco.admin.ch/seco/de/home/wirtschaftslage---wirt schaftspolitik/Wirtschaftslage/bip-quartalsschaetzungen-.html

1 INGA-Involvement von Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Genesungsbegleitung und Austausch von Erfahrungswissen. Im Bereich psychischer Gesundheit sind sie sogenannte «Experten aus eigener Erfahrung»

2 Peers, engl., sind Kollegen auf gleicher Stufe, im gleichen Rang bzw. Menschen auf gleicher Augenhöhe, hier Gleichbetroffene

3 Resignativ, sich abfindend

4 www.ctsgroup.ch/wp-content/uploads/2016/09/Mensch_und_Arbeit_Burnout.pdf

5 Anzahl einer bestimmten Population von einer Krankheit Betroffener in einem bestimmten Zeitraum

6 OBSAN Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Omnibusserhebung: Erhebung mehrerer Themenfelder z.B. anlässlich eines Panels

7 www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2023-05/Obsan_03_2023_BERICHT.pdf

8 www.gesundheitsbericht.ch/de/05-psychische-gesundheit/54-fazit#main-content

9 www.ensa.swiss/de

10 www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/ge sundheit-2030.html

11 Die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers beruht auf den Grundsätzen der humanistischen Psychologie. Zur therapeutischen Grundhaltung der klientenzentrierten Gesprächsführung gehören bedingungslose positive Wertschätzung, Kongruenz/Echtheit und Empathie.

12 Recovery ist eine gesundheitsorientierte und prozesshafte Einstellung, welche Hoffnung, Wissen, Selbstbestimmung, Lebenszufriedenheit und vermehrte Nutzung von Selbsthilfemöglichkeiten fördern will und damit auf die (subjektive) Lebensqualität trotz psychischer Krankheit zielt.

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