30.9.2023

Männlicher Protest – Adlers Sympathie mit der Frauenbewegung

Dr. Almuth Bruder-Bezzel

Männlicher Protest – Adlers Sympathie mit der Frauenbewegung
Wir protestieren!
Oh ja! Wir protestieren sehr gerne! Wofür? Es gibt unglaublich viele Gründe, zu protestieren! Für oder gegen…! Das geht immer! Das Klima und die Erderwärmung – Corona und die Massnahmen - gerechtere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen – die Banken und den Kapitalismus – Rassismus und me to - Frauenrechte und der männliche Protest. Tönt doch spannend!

Adler hatte sehr bald entdeckt, dass das Spannungsfeld der kompensatorischen Dynamik von oben und unten, stark und schwach, sich in der Geschlechterhierarchie abbildet, der gemäß weiblich mit ‘schwach’, männlich mit ‘stark’ assoziiert ist. Das nannte er «männlicher Protest».

Und dieser männliche Protest spielte nach Adlers Vortrag zum «Psychischen Hermaphroditismus» (1910c) auf dem Nürnberger Psychoanalytischen Kongress 1910 die zentrale Rolle in der Debatte 1910/11, die schließlich zum Bruch mit Freud geführt hatte.

Weiblichkeit oder Männlichkeit bindet Adler nicht an den Körper, sondern versteht sie als sozial hergestellte Geschlechtsrolle, so wie heute ‘Gender’ verstanden wird. Und diese ‘Gender’ wird stetig inszeniert und hergestellt (doing gender), befördert durch Bedingungen in der Arbeit und im Alltagsleben, durch Ideologien, Mythologien und auch durch Sprache. (Sprache ist somit nur eine dieser Bedingungen und Hemmnisse).

Dr. Almuth Bruder-Bezzel

Alfred Adler kritisiert diese Geschlechterhierarchie scharf, sie wirke sich auf beide Geschlechter negativ aus. Bei Jungen erzeuge sie eine Angst vor den eigenen weiblichen» Anteilen und führe sie dazu, «sich frühzeitig den falschen Schein einer übertriebenen Männlichkeit beizulegen » (Adler 1910d, S. 130). Bei Mädchen würden sich sogenannte weibliche Eigenschaften als ein «Notprodukt» entwickeln, weil das kleine Mädchen einen männlichen Aberglauben von der Aussichtslosigkeit ihres eistigen Strebens in sich aufgenommen hat und nun dauernd mit einer männlichen Stimme zu reden versucht (Adler 1914f, S. 60f).

Männlicher Protest ist der normale oder auch neurotische Versuch beider Geschlechter, mit dieser Hierarchie umzugehen: entweder sie zu überwinden oder sie zu verteidigen. Im Ausmaß, dem Ausdrucksmittel und Bewusstheit, gibt es hier natürlich große Varianten. Auch kann er individuell oder kollektiv ausgedrückt werden.

Für Männer oder Jungen meint männlicher Protest den Anspruch und das Bestehen auf den Privilegien der Männer, auf ihre (gesellschaftliche) Macht, und die angstvolle Abwehr von Schwäche oder sog. femininer Züge: Ich will ganz Mann sein, nicht Frau.

Männlicher Protest bei Frauen und Mädchen meint Protest gegen die vorherrschende Unterordnung und Geringschätzung der Frauen, meint den Anspruch auf Gleichberechtigung bis hin zur Emanzipation. Diese Seite des Strebens nach Gleichberechtigung unterstützt Adler, bezeichnet er doch die «Frauenfrage» als eine der wichtigsten Fragen unserer Gesellschaft» (Adler 1914f, S. 60), die Geschlechterhierarchie als «Krebsschaden unserer Kultur» (1910d, S.127), die Frauenbewegung als den kollektiven emanzipatorischen Ausdruck des männlichen Protests, den Adler dem individuellen Kampf bevorzugt.

Als relativ häufige weibliche Protestform sieht Adler und sehen wir heute auch den Triumph mit sogenannten weiblichen Mitteln, wie mit Schönheit, Naivität, Diplomatie, Listen der Ohnmacht, Sanftheit, aber auch Herrschen im Privatbereich durch sog. weibliche, haushälterische Fähigkeiten u.a. Das nennt Adler männlichen Protest mit weiblichen Mitteln.

«Für Männer oder Jungen meint männlicher Protest den Anspruch und das Bestehen auf den Privilegien der Männer. Männlicher Protest bei Frauen und Mädchen meint Protest gegen die vorherrschende Unterordnung und Geringschätzung der Frauen, meint den Anspruch auf Gleichberechtigung bis hin zur Emanzipation.»

Es ist diese Form, die heute gegenüber der «männlichen » Variante erneut wieder gern eingesetzt wird. Nur mit Vorbehalten aber würde man dies noch «Protest» nennen können. Zudem liegt in der Hervorhebung der Weiblichkeit eine Bestätigung und Funktionalisierung der Differenzen der Geschlechter und der Geschlechterhierarchie vor – also doch eine Fixierung der Rollen.

Adler hat den «männlichen Protest» 1910 zusammen mit dem nicht weniger schwierigen Begriff des «psychischen Hermaphroditismus» eingeführt, ausgehend von Freuds «Bisexualität». Beide Begriffe gehören zusammen (Bruder-Bezzel 2011), psychischer Hermaphroditismus ist sozusagen der Untergrund, die Voraussetzung, für den männlichen Protest. Psychischer Hermaphroditismus meint, besonders bei Frauen, das Schwanken zwischen männlichen und weiblichen Tendenzen, die Doppelrolle zwischen weiblich gewerteten Unterlegenheitsgefühlen und den als männlich empfundenen Überlegenheitsgefühlen. Vielleicht kommt das der Empirie sogar näher als der blanke Protest.

Adlers kompensatorischer «männlicher Protest» steht auf jeden Fall im Zusammenhang damit, dass er sich zur Frauenbewegung und zur Frauenemanzipation positiv positioniert hat, was eine absolute Minderheitenposition in männlichen bürgerlichen Intellektuellenkreisen, wie zum Beispiel im Freudkreis, war. Dort war Adler bereits um 1908 der Einzige, der sich für die Gleichberechtigung der Frau stark und sich dabei auch als Sozialist unbeliebt gemacht hat. Er hatte dabei auf das grundlegende Werk von August Bebel (Bebel 1879) verwiesen. Und Adler hatte nicht zufällig eine intellektuelle, emanzipierte Ehefrau, die in der Frauenbewegung aktiv war – dass ihm das auch zu schaffen gemacht hat, ist bekannt, hier könnte Theorie und praktisches persönliches Leben auseinanderklaffen.

Adler hat den Begriff männlicher Protest schon bald kaum mehr gebraucht, das Thema Gleichberechtigung blieb aber lebendig. Mit Beginn der Republik war er von vielen emanzipierten Frauen als Mitstreiterinnen umgeben – unter denen auch der männliche Protest kontrovers diskutiert wurde (Bruder-Bezzel 1999, S. 145). Auch hat sich Adler in den 20er Jahren für die Abtreibungsmöglichkeit stark gemacht (ebd. S. 135).

Ist all das, Geschlechterhierarchie, Unterordnung des Weiblichen, Befreiung durch einen «männlichen Protest», ist das nicht Schnee von gestern? Haben wir den «Protest», die Frauenbewegung, nicht doch überwunden, wie uns der Postfeminismus glauben lassen will? Wir haben alles erreicht, sagen sie, es gilt nur noch, es sich zuzutrauen, die Chancen der Verbindung von Karriere, sexuellen Abenteuern und Mutterschaft zu ergreifen und auszuleben, die weiblichen Fähigkeiten im Diversity Management einzusetzen und dann vielleicht noch korrigierend als Sprachpolizei aufzutreten.

Zweifelsohne sind die traditionellen Rollenmuster in der Geschlechterhierarchie in vielem brüchig geworden, ist viel erreicht worden aufgrund der Kämpfe der Frauen und der veränderten ökonomischen und politischen Erfordernisse. Alle EUMitgliedstaaten haben sich dazu verpflichtet an der Gleichstellungspolitik (Gender Mainstreaming) ihre Politik zu messen. Aber doch fehlt es sehr häufig an der praktischen Umsetzung, die durch die Rahmenbedingungen der Arbeitswelt, durch Markt- und Konsumangebote etc. dann doch sehr erschwert wird. Vor allem haben sich erneut traditionelle, polarisierte Bilder der Geschlechtsrollen und deren biologische essenzielle Begründungen wieder eingeschlichen. Die tägliche praktische Anschauung zeigt uns dies, Studien bestätigen Ungleichheiten in den verschiedenen Bereichen und auch der «2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung » (2017) macht das sehr deutlich (vgl. Bruder-Bezzel 2020, S. 48f).

So wird ein Kampf um Gleichberechtigung bis hin zur Emanzipation – was nicht das Gleiche ist – wohl als permanenter Kampf nötig sein.

Dr. Almuth Bruder-Bezzel ist Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin mit eigener Praxis, sowie Mitbegründerin des Alfred Adler Instituts Berlin. Sie hat unter anderem zur eschichte und Theorie A. Adlers und zu psychologisch-gesellschaftskritischen Themen wie etwa Arbeitslosigkeit, Rechtspopulismus, neoliberales Subjekt und Feminismus geschrieben.

Literaturverzeichnis:

  • Adler, A. (1910c/2007): Psychischer Hermaphroditismus… In. Adler, A. Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904-1912). Studienausgabe Bd.1, Hg. A. Bruder-Bezzel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 102-113
  • Adler, A. 1910d/2007: Trotz und Gehorsam. In. Adler, A. Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904 - 1912). Studienausgabe Bd.1, Hg. A. Bruder-Bezzel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 122-131
  • Adler, A. 1914f/2009: Soziale Einflüsse in der Kinderstube. In: Adler, A. Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung. Studienausgabe Bd. 4, (Hg.) W. Datler, J. Gstach, M. Wininger Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht, S. 50-65
  • Bebel, A. (1879/1980): Die Frau und der Sozialismus. Berlin/Bonn: Dietz Verlag.
  • Bruder-Bezzel, A. (1999): Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl.
  • Bruder-Bezzel, A. (2011): Psychischer Hermaphroditismus. Alfred Adler in Nürnberg und sein Verstoß gegen die reine Lehre. In: Metzner, E., Schimkus, M. (Hg.) Die Gründung der internationalen psychoanalytischen Vereinigung durch Freud und Jung. Gießen: psychosozial, S. 147-166
  • Bruder-Bezzel, A. (2020): Von der Frauenbewegung zum Postfeminismus. Z.f.Individualpsychol. 45, 47-63
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2017): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Berlin

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