Rudolf Isler
Als Vorbereitung auf mein Referat über Manès Sperber vom 8. Januar, soll hier seine Lebensgeschichte erzählt werden. Das Referat wird sich dann ganz auf die Kraft seines Denkens und seiner Schriften konzentrieren können; auf eine Kraft, die für uns Menschen beim Lesen spürbar wird und bei den meisten Mut, Zuversicht und eine innere Ruhe hinterlässt.
Manès Sperbers Biographie ist für uns schwer vorstellbar. Aber für einen im Jahr 1905 geborenen Europäer ist sie nicht aussergewöhnlich. Sperber kam in Zablotow, einem kleinen, in derheutigen Ukraine liegenden Städtchen zur Welt – in einem von Hunderten, mehrheitlich von Juden bewohnten sogenannten ’Stetl’. Im ’Stetl’, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, erfuhr er eine traditionelle jüdisch-chassidische Einführung ins Leben, auf die er in seinen Schriften immer wieder Bezug nehmen sollte.
Weil sich die Front im 1. Weltkrieg mehrmals durch das Städtchen Zablotow bewegte, sah sich die Familie Sperber zur Flucht gezwungen. 1916 gelangten die Sperbers nach Wien – eine einschneidende Erfahrung und eine gewaltige Umstellung für den 11-Jährigen Manès, der in der Grossstadt nun das Gymnasium besuchte und sich dem Schomer, der selbstbewussten, zionistischen Jugendbewegung anschloss, nicht zuletzt auch deshalb, weil er in Wien zum ersten Mal offenen Antisemitismus erlebte.
Es war im Jahr 1921, als der frühreife und durchaus mit einem jugendlichen, leicht überhöhten Selbstbewusstsein ausgestattete Manès das erste Mal auf Alfred Adler traf. Der junge Mann wollte zwar schon damals Schriftsteller werden, aber nichts deutete daraufhin, dass aus dem nun 16-Jährigen in den 1970er und 1980er Jahren ein weltberühmter und mit vielen Preisen geehrter Romancier und Essayist werden sollte. Im Gegenteil, die Entwicklung verlief zunächst in eine andere Richtung.
Alfred Adler imponierte Manès Sperber auf den ersten Blick gar nicht; Adler sprach gewöhnlich und war wie ein Kleinbürger gekleidet. Und doch zog er ihn in seinen Bann! Fast fünfzig Jahre später erklärt Sperber, was da passierte: »Adler wirkte damals auf alle, die mit ihm zu tun hatten – besonders aber auf die jungen Leute, die von ihm lernen wollten –, so ermutigend, dass jeder selbst nach einem ganz kurzen Gespräch mit ihm gleichsam einen neuen Glauben an sich selbst davontrug, eine zwar unformulierte, aber doch äusserst bestärkte Hoffnung auf die eigene nahe oder ferne Zukunft – und dies nicht etwa, weil man glaubte, fortab von anderen mehr erwarten zu dürfen. Man dachte, wusste auf einmal, dass man von sich selbst ungleich mehr fordern, mehr aus sich ’herausholen’ könnte, als man es vorher je für möglich gehalten hätte. Gar mancher fühlte sich wie verwandelt, in einen anderen, besseren, klügeren, aktiveren Mitmenschen verwandelt. Und dieses Gefühl hielt einen Abend lang vor, einen Tag, eine Woche, manchmal länger. Obschon allmählich verblassend, mochte diese Wirkung fortdauern und nie mehr ganz verschwinden.«[i]
Sperber besuchte in der Folge alle Kurse von Adler, las alles, was er geschrieben hatte, begann sich persönlich mit ihm im Kaffeehaus zu treffen, zum Teil bis spät in die Nachthinein. Er übernahm bald Fälle von Schulkindern und hielt mit 20 Jahren schon Einführungskurse in die Individualpsychologie. Im Alter von 21 Jahren schrieb er ein kleines Büchlein: »Alfred Adler. Der Mensch und seine Lehre« – überschwänglich, fast eine Hagiographie. Den Plan, Schriftsteller zu werden, hatte er nach einem Gespräch mit Adler auf später verschoben …. Jetzt war er Psychologe.
1927 zog Sperber nach Berlin, im Gepäck der Auftrag von Adler, in der Hauptstadt der Weimarer Republik die Individualpsychologie zu vertreten und zu verbreiten. Sperber tat das und arbeitete zuerst mit dem Berliner Individualpsychologen Fritz Künkel zusammen. Doch schnell kam es zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen beiden. Sperber war schon 1927 in die Kommunistische Partei Deutschlands eingetreten und begann, eine Synthese von Individualpsychologie und Marxismus zu formulieren und zuvertreten. Sein politisches Engagement wurde zusehends stärker. Dies führte zum Bruch mit Künkel – und am Ende dann, im Jahr 1932, auch zum Bruch mit Alfred Adler, der auf keinen Fall wollte, dass seine Lehre politisch vereinnahmt wurde. Die Distanz zwischen Sperbers kommunistischem Engagement und Adlers neutraler Seelenkunde war zu gross geworden.
Man muss sich die historische Situation der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre vor Augen führen, um nachzuvollziehen, was Sperber bewegte. Als Hauptgrund für seine Hinwendung zur Politik nannte er selbst die politische Entwicklung in Deutschland. Wäre man angesichts des heraufkommenden Nationalsozialismus, so Sperber, bei der Behandlung des Einzelnen geblieben und hätte die Optik nur auf ihn gerichtet, so hätte man sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, »ob man nicht die Zeitdamit verlor, einen Schnupfen zu heilen, während das in Brand gesteckte und von Brandstiftern umzingelte Haus über allen seinen Bewohnern zusammenzubrechen drohte.« Wir Nachgeborenen wissen, dass die Katastrophe nicht verhindert wurde.
1933, ein Jahr nach dem Bruch mit Adler und unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde Sperber von der SA verhaftet, kam nach fünf Wochen jedoch durch glückliche Umstände wieder frei. Als Jude und Kommunist konnte er nicht in Deutschland bleiben. Er gelangte nach Paris ins Exil, wo er nun als kommunistischer Funktionär arbeitete – zwar mit Zweifeln an der vorgegebenen Parteilinie, aber im Verhalten stets konform zu ihr. Immer mehr realisierte er in dieser Zeit, wie der Sowjetkommunismus unter Stalin zu einer menschenverachtenden Diktatur geworden war. Die Moskauer Schauprozesse gaben dann schliesslich den Ausschlag dafür, dass er sich 1937 von der kommunistischen Partei trennte.
Mit vorausschauender Umsicht und mit Glück überlebte Sperber die Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung – bis 1940 in Paris, nach dem Einmarsch der Deutschen in Südfrankreich und ab 1942, nach der Flucht in die Schweiz, in Zürich. 1943 erfuhr er hier von einem Augenzeugen, der aus dem Lager Treblinka entkommen war, wie die Stetl vernichtet und die Juden ermordet wurden. Unter diesem unfassbaren Eindruck wurde der Bruch mit Deutschland endgültig und unheilbar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sperber noch geplant, nach dem Ende des Nationalsozialismus sich politisch am Wiederaufbau Deutschlands zu beteiligen oder in Berlin seine psychologische Tätigkeit wieder aufzunehmen.
In den schwierigen Jahren des Exils, der Bedrohung und der vielfachen Isolation vollzog sich ein grundsätzlicher Wandel in Sperbers Leben. Der kommunistische Kampf gegen denNationalsozialismus war verloren, und die Pervertierung der sozialistischen Ideen zu einem totalitären System unter Stalin war zur unerträglichen Niederlage geworden, für die sich Sperber als ehemaliges Parteimitglied mitschuldig fühlte. Die Politik als Ort des Engagements wurde für ihn fraglich, die Arbeit in einer Partei unmöglich. An die Stelle der direkten politischen Aktion begann nun das Schreiben zu treten – ohne tagespolitische Wirkungsabsicht, sondern mit einem aufklärerischen, erinnernden Anspruch. Schreiben wurde in Südfrankreich und Zürich die Basis einer neuen Identität. Erst hier und erst mit 38 Jahren wurde Sperber nun wirklich Schriftsteller. Mit der Feder führte er auf einer anderen Ebene seinen Kampf für eine gerechtere, bessere Welt fort.
Im September 1945, drei Jahre nach seiner Flucht in die Schweiz, kehrte Sperber mit einem Repatriierungszug nach Paris, in die wichtigste Stadt seines Exils, zurück, wo er nun bis zu seinem Tod im Jahr 1984 als Verlagsleiter, Schriftsteller und Publizist arbeitete und lebte. Mit dabei hatte er die Anfänge zur Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean«, die in der vollständigen Fassung 1961 in Deutschland erschien und zu einem Welterfolg wurde.
Bis zu seinem Lebensende schmerzhaft geblieben war für Manès Sperber jedoch der Bruch mit Adler. Obwohl Sperber selber keine psychologische Tätigkeit mehr ins Auge fassen konnte und wollte, blieb er mit der Individualpsychologie verbunden, pflegte Freundschaften zum Beispiel mit Erwin Ringel oder Rainer Schmidt, mit dem er 1978 das Buch »Individuum und Gemeinschaft. Versuch einer sozialen Charakterologie« herausgab – eine theoretische Schrift zur Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, die Sperber in den 1930er Jahren als Vortragsreihe gehalten, aber damals nicht veröffentlicht hatte.
Auch in hohem Alter hat Sperber mit Dankbarkeit von Alfred Adler gesprochen und ihn immer »seinen Meister« genannt. Noch im letzten Interview hat er bestätigt: »Dass ich hier so stehe, das habe ich ihm zu verdanken, dass vergesse ich nie.« Alle Texte der in diesem Jahr neu aufgelegten dreibändigen Werkausgabe[1] von Manès Sperber belegen diese Aussage. Alle sind Zeugnisse eines wesentlich auch individualpsychologisch geprägten Denkens. Eine regelrechte Rückkehr zur Individualpsychologie stellt jedoch die 1970, zum 100. Geburtstag erschienene Adler-Biografie dar: »Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie«. Dort schreibt Sperber in der bewegenden Einleitung:
»Fast ein halbes Jahrhundert, genau 48 Jahre, ist es her, dass dieser sokratische Dialogist mich ins Gespräch gezogen hat. Es hat kaum mehr als ein Jahrzehnt gedauert. Nun, da ich mich anschicke, über ihn und seine Lehre* (*’Alfred Adler. Der Mensch und seine Lehre’ war der Titel meines ersten Büchleins; es ist im Sommer 1926 erschienen) zu schreiben und noch weit ausführlicher über die Psychologie als angewandte Menschenkenntnis, wie sie sich mir heute darstellt, anbietet und zugleich verweigert, steigt die Erinnerung an jene ferne Zeit und an jenen kleinen grossen Mann übermächtig in mir auf. Mannigfache Meinungsverschiedenheiten, alle Bitternis eines Zerwürfnisses, der stumme Bruch schliesslich, den er gewollt und fünf Jahre vor seinem verfrühten Tod herbeigeführt hat – nichts von alledem vermindert die Gewissheit, die ich an einem kalten Herbstabend im Jahre 1921 gewonnen habe, die Gewissheit, dass Alfred Adler seinen Jüngern, solange er ihnen vertraute und sich von ihrem Vertrauen getragen fühlte, ein unvergleichlicher Lehrer, Meister und Freund gewesen ist. Von ihm erfuhren sie ein für allemal, dass Meinung nichts ist im Vergleich zum Wissen und dass alles Wissen Stückwerk bleibt ohne das Verstehen. Er lehrte jeden, die eigene Unzulänglichkeit zu erkennen und zugleich sich mit ihr so abzufinden, dass er fähig würde, sie zu überwinden, zu kompensieren oder gar zu überkompensieren. Im gleichen Atemzug belehrte er uns über die unfassliche Nichtigkeit und über die unübertreffliche Grösse des Menschen. In seinen besten Stunden bewies Alfred Adler durch das Beispiel, das er gab und das er selber sein konnte, dass, wer die Menschen in schmerzlicher Ironie durchschaut hat, sie nicht nur trotzdem, sondern eben deswegen lieben kann. Unter der fortdauernden Wirkung dieser seiner besten Stunden, die ich vor Jahrzehnten erlebt habe, und im Gedenken an sie schreibe ich dieses Buch.«[2]
Wer auch immer sich auf Alfred Adler und die Individualpsychologie beruft und auch einen kritischen Gedanken schätzt, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Antiquarisch kostet es drei Euro. Und es lehrt einen, dass neben der Psychologie, gerade in der heutigen Zeit, auch eine dezidierte Stellungnahme für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar ist. Dass psychologische Praxis und Engagement für eine bessere Welt zusammengehören.
Querverweis: Gesund bleiben im herrschenden Zeitgeist von Elli von Planta
[1] Manès Sperber: Ausgewählte Werke. Sonderzahl-Verlag, Wien 2024.
Band 1: All das Vergangene … Autobiographie. Herausgegeben von Mirjana Stancic.
Band 2: Wie eine Träne imOzean. Romantrilogie. Herausgegeben von Rudolf Isler.
Band 3: Zur Analyse derTyrannis. 19 Essays. Herausgegeben von Wolfgang Müller-Funk.
[2] Manès Sperber. 1971. Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 13.
[i]Manès Sperber. 1971. Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 12.
Rudol Isler
Bildungsexperte und Autor
Rudolf Isler war zuerst Sekundarlehrer, hat dann Pädagogik und Psychologie studiert und wurde Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich mit den Schwerpunkten Geschichte der Pädagogik, Allgemeine Didaktik und Berufspraxis. Er war Präsident des Senats, war in internationalen Bildungsprojekten tätig (Ukraine, Ghana, Bhutan, Moldawien, Bahrain) und hatte Lehraufträge an der FUBerlin. Er ist Autor von zahlreichen Publikationen zu Schulpädagogik, Didaktik, Lehrerbildung und beruflicher Identität von Lehrerinnen und Lehrern. Daneben publiziert er zu literarischen Themen, hauptsächlich zu Manès Sperber, über den er einen Dokumentarfilm gemacht hat (Manès Sperber – ein treuer Ketzer). Er ist Mitherausgeber der dreibändigen Neuausgabe von Manès Sperber im Jahr 2024 und hat in der Zeitschrift für Individualpsychologie verschiedentlich über Sperbers Bedeutung für die Individualpsychologie geschrieben. Rudolf Isler lebt und arbeitet in Zürich.
Rudolf Isler, Prof. Dr., Bildungsexperte und Autor. Ehem. Dozent und Präsident des Senats der Pädagogischen Hochschule Zürich. Publikationen zu historischen und aktuellen Fragen der Pädagogik, der Allgemeinen Didaktik und der Lehrberufe. Biographieüber Manès Sperber aus pädagogischer Perspektive und Autor und Regisseur des Dokumentarfilms «Manès Sperber – ein treuer Ketzer».
Homepage: www.rudolfisler.ch
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