27.7.2024

Angst, ein vielschichtiges Lebensgefühl

Vreni Weber

Angst, ein vielschichtiges Lebensgefühl
Von Verhalten, Aushalten und Einhalten
Angst – ein vielschichtiges Lebensgefühl. Wir alle kennen sie – wir kommen nicht drum herum. Wir können unsere Kinder nicht davor schützen. Also werfen wir doch einmal einen genaueren Blick auf die Angst!

Von Verhalten, Aushalten und Einhalten

In ihrem Text geht Vreni Weber auf die unterschiedlichsten Formen und Begründungen von Angstgefühlen ein. Hilfreich ist die Kategorisierung durch Fritz Riemanns «Grundformen der Angst», aber so einfach es dann doch nicht mit ihrer Zuordnung und Bewältigung.

Angst ist ein Gefühl, das jedes Kind kennt, meinen wir. Aber wenn wir genauer hinschauen, ist es ein sehr kompliziertes vielschichtiges Gefühl.

Es gehört in seiner ursprünglichsten Form zu unseren Überlebensfunktionen, übernimmt die Warnfunktion, meldet, dass Gefahr im Anzug ist, macht unruhig, stresst uns, fordert uns auf zu handeln, fight or flight, Kampf oder Flucht, oder wie ein Reptil zu erstarren, um nicht ins Visier zu geraten.

Angst entsteht nicht nur bei Gefahr, sondern auch dort, wo es um Wünsche und Ziele geht; wollen wir etwas erreichen, haben wir Angst, es nicht zu bekommen. Man denke an Vorstellungsgespräche, Dates, etc.; sogleich wird es kompliziert: Wir haben – man glaubt es kaum – auch Angst, etwas zu bekommen. Davon weiss die Redewendung: «Da häsch dänn s’Gschänk!» Es macht Angst, sich festzulegen, weitere Möglichkeiten auszuschliessen, Verantwortung für das Entschiedene zu übernehmen und auch dessen Schattenseiten zu erleben. Tief in uns verborgen entsteht beim «Sich etwas Nehmen» ein Schuldgefühl, welches ein bekanntes Sprichwort so beschreibt: «Geben ist seliger als Nehmen». Es ist die Angst, verfolgt und bestraft zu werden für die Dreistigkeit des Nehmens, dafür büssen zu müssen. Aber auch wenn wir unsere Ziele glücklich erreicht haben, fürchten wir uns davor, unsere Trophäen wieder zu verlieren.

Angst ist ein Gefühl, das wir schwer aushalten. Wir erleben es als Tortur, als Bedrohung von uns selber oder von lieben Menschen, Tieren und Dingen. Wir haben Panik vor schmerzlichen Verlusten aller Art. Damit diese schlimmen Gefühle uns nicht um den Verstand bringen, haben wir verschiedenste Mechanismen entwickelt, um die Angst in Schach zu halten. Fritz Riemann hat sie treffend beschrieben in seinem bekannten Buch «Grundformen der Angst».

Fritz Riemanns Grundformen der Angst

  • Sich nicht in Gefahr begeben, Ängste wahrnehmen, sie ernst nehmen, auf ihre Warnung eingehen, das hilft Angst zu vermindern. Wenn Sicherheit übertrieben wird, nichts mehr gewagt wird aus Angst, dass es schief gehen könnte, alle möglichen Fehler verhindert werden müssen, alles gefahrenfrei geplant und abgesichert werden muss, ist die Erfüllung und das Lernen und Wachsen in Lebensaufgaben wie Partnerschaft, Arbeit, Familie infrage gestellt; denn diese bieten ja ein Unmass von Gefahren. Alles Neue, jeder Wandel birgt unerwünschte Situationen, die uns unvorbereitet treffen können. Sich dem zu entziehen, heisst sich dem Leben entziehen. Das ist die zwanghafte Lösung der Angst.
  • Flucht vorwärts heisst der umgekehrte Mechanismus. Wenn Angst aufkommt im gewohnten System, wird dieses fluchtartig verlassen, um etwas Neues in Angriff zu nehmen im Glauben, etwas Besseres finden zu können. Das kann objektiv so sein. Viel eher wird es sich zeigen, dass man dem Bonmot aufgesessen ist: «Neue Besen wischen besser». Sobald die Begeisterung abgeklungen ist, wird sich die alte Angst wieder melden, es könnte vielleicht doch nicht so gut sein wie angenommen. Dann werden die Koffer wieder gepackt. Die Flucht nach Neuem und Besserem geht weiter. Dass mit dieser hysterisch genannten Form der Angstabwehr eine solide und vertiefte Erfüllung von Lebensaufgaben nicht zustande kommen kann, liegt auf der Hand.


Auch auf der Beziehungsebene spielt Angst eine entscheidende charakterformende Rolle. Angstabwehr kennt auch hier beide Gegensätze:

  • Nur in einer engen Beziehung können wir überleben, entkommen wir dem Tod. Das stimmt sicher für den Anfang des Lebens. Die Statistik zeigt auf, dass Leute in festen Beziehungen gesünder leben und älter werden. Aber die Angst übertreibt. Menschen dieser Angstabwehrstruktur fürchten das Alleinsein. Sie fühlen sich unfähig, das Leben alleine meistern zu können und suchen deshalb die Nähe zu andern. Auf passive Weise geben sie sich hilflos, unterstützungsbedürftig, um so attraktiv für einen Retter*in zu wirken. In aktiver Weise versuchen sie, sich als Helfer*in für andere unentbehrlich zu machen. Diese depressive Form der Angstabwehr sichert die Nähe zu Menschen, aber sie hilft wenig, um sich selber zu entfalten und zu verwirklichen. Entweder kümmert man sich nämlich dauernd um andere oder man muss die Rolle des Hilflosen spielen, was im Gesamten ein unbefriedigtes Gefühl zurücklässt.
  • Nur ja keine engen Beziehungen ist die andere Abwehrform von Angst. Angst vor Ansprüchen, Forderungen, Verpflichtungen, Einschränkungen und Rücksichtnahmen, die sich in Beziehungen ergeben, wird durch Vermeidung gelöst. Nur so kann man die Selbstbestimmung, die Freiheit und das ungestörte Vorankommen der eigenen Pläne, Wünsche und Ziele erreichen. Man hält die anderen Menschen auf Abstand, kümmert sich wenig um sie, geht geradlinig nur dem Eigenen nach und entwickelt dieses zu hohem Glanz. Bei dieser schizoid genannten Angstabwehr bleiben Beziehungen, Freundschaften und das Familienglück auf der Strecke.


Sich seinen Ängsten stellen

Gäbe es nur diese vier Typen zur Angstabwehr, wäre Psychologie keine sehr komplizierte Wissenschaft. Nun haben alle Menschen je nach Veranlagung und Lebensgeschichte Teile oder Fetzen dieser vier typischen Abwehrmechanismen in sich und brauen sich daraus eine eigene «unverständliche» Mischung. Diese bezieht ihre Vergangenheit

«Angst entsteht nicht nur bei Gefahr, sondern auch dort, wo es um Wünsche und Ziele geht.»

aus Kindheits- und Pubertätserfahrungen, aus Beziehungs- und Veränderungsgeschichten, Überforderungen und Traumata mit ein. Wir haben das Fürchten gelernt und wie man ihm entkommt. Die bedrohlichen Angsterfahrungen warnen fortwährend, solche Situationen von weitem zu erkennen und entsprechend zu handeln. So kann man einerseits aus einer verarbeiteten Erfahrung klug werden oder aus einer unverarbeiteten Situation andererseits das Angstgespenst immer wieder neu beschwören. Das geschieht bewusst, häufiger unbewusst. Dann wundert man sich über inadäquate, privatlogische Reaktionen und sich wiederholende Geschichten.

«Alle Menschen haben je nach Veranlagung und Lebensgeschichte Teile oder Fetzen dieser vier typischen Abwehrmechanismen in sich und brauen sich daraus eine eigene ‘unverständliche’ Mischung»

Menschen, die solches an sich entdecken und klären wollen, suchen Hilfe in Therapie. Für viele taucht aber die nicht mehr kontrollierbare Angst scheinbar aus dem Nichts auf, ihre sonst üblichen Verdrängungsmechanismen funktionieren nicht mehr und sie werden von unerklärlicher Schlaflosigkeit, Hyperventilations- oder Panikattacken heimgesucht. Die Ursache ihrer generalisierten Angst ist ihnen nicht klar, sie machen sie an Äusserlichkeiten der auftretenden Situation fest: Jahreszeit, Höhenlage, Temperatur, Essen, Personen etc., und obwohl sie die vermeintliche Ursache meiden, so oft sie können, tritt sie doch immer wieder auf. Dasselbe geschieht mit Phobien. Nicht die eigenen Angstgedanken bringen die Welt aus dem Lot, es ist die Maus, die Spinne, der enge Lift, der weite Platz, welche das Elend verursachen.

Der Angst schauen wir nicht gerne in die Augen, denn dann sind wir ihr ausgesetzt. Lieber schieben wir sie auf etwas, das wir bewältigen oder mindestens vermeiden können. Doch gilt es, der Angst auf den Grund zu kommen. Das Rumpelstilzchen halbiert sich, wenn es beim Namen genannt wird! Es gilt, die selbstgezimmerten oder realen Bedrohungen zu verstehen, auseinanderzuhalten und auszuhalten. Nicht zufällig spricht Alfred Adler immer wieder von Ermutigung. Mut braucht es, trotz Angst voranzugehen! Ohne Ängste, keine Wunscherfüllungen, ohne Bedrohung, kein Leben! Und zuletzt wird unsere Angst wahr werden, wir werden alle sterben.

 

Vreni Weber

Krankenschwester für Kinder und Erwachsene

4 Jahre Afrikaeinsatz im Tschad

Individualpsychologische Beraterin SGIPA

Eidg. Ausbildnerin

Analytische Gruppentherapeutin

Eidg. anerkannte Psychotherapeutin in eigener Praxis

Mitarbeit in der Ausbildung von IP-Erziehungsberater/-coach

Mitarbeit Cinepassion: Psychoanalytische Filmbesprechung

Verheiratet, Mutter von 3 erwachsenen Kindern und einem Pflegesohn, Grossmutter von 4 Enkelinnen

Vreni Weber

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