Jürg Frick
Für das kleine Kind bedeutet ein Nein die erste Abgrenzung von den Erwachsenen sowie die Entwicklung eigener Erfahrungen, Wünsche und Pläne. Später grenzen sich Jugendliche in der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt der Erwachsenen ab, um eigene Werte, eine persönliche Identität zu entwickeln. Im Erwachsenenalter geht es dann noch um mehr: Wer nicht Nein sagen kann, kommt im Leben ganz einfach zu kurz, übergeht sich und seine Bedürfnisse, übersieht sozusagen die Fülle des Lebens, tut unter Umständen aus Gewohnheit, falscher Loyalität oder Bravheit Dinge, die er oder sie nachträglich bereut usw.
«Ungehorsam war (und ist!) unabdingbar notwendig für die gesellschaftliche Entwicklung.»
Im berühmten Milgram-Experiment haben rund zwei Drittel der Versuchspersonen aus unterschiedlichen Gründen nicht gewagt, den irrwitzigen Befehl, einem unbekannten Menschen für Fehler Stromstösse zuzufügen, mit einem Nein zu verweigern! Und aus der Nazi-Zeit lernen wir, wie einige mutige Menschen sich dem Regime widersetzt haben und mit ihrem direkten oder indirekten Nein verfolgte Menschen retten konnten! Anders ausgedrückt: Ungehorsam war (und ist!) unabdingbar notwendig für die gesellschaftliche Entwicklung – alle fortschrittlichen menschlichen sowie kulturellen Errungenschaften waren und sind auch für die Zukunft an angemessene Neins, an Widerstand gegenüber bestehenden, tradierten Vorstellungen, Gesetzen und Einrichtungen gebunden: Nein zum ptolemäischen Weltbild, zur Sklaverei, zur Minderbewertung von Schwarzen und Frauen, zur Kinderarbeit, zum 10-16 Stunden-Arbeitstag, zum Alleinanspruch von Religionen und Kirchen bezüglich ethischer und moralischer Fragen, zum Diktat und Alleinanspruch einer politischen Partei, zur Diktatur durch irgendeinen –ismus, zur Unterdrückung der Rede- und Meinungsfreiheit, zur Folter, zur Verfolgung und Diskriminierung anders denkender Menschen, Nein zum Überwachungsstaat usw.
Das heutige Leben in hoch entwickelten Ländern schliesslich bietet permanent unzählige Angebote, Möglichkeiten, Gefahren, auf die Stellungnahmen, Antworten, auch kritische Reaktionen nötig sind. Einige Beispiele: Religiöse Heilsbringer buhlen um unsere Mitgliedschaft, Finanzexperten raten uns zum Kauf von dieser oder jener profitversprechenden Geldanlage, Auto- und Elektronikhersteller versprechen teure Produkte schon heute zu nutzen, aber erst nächstes Jahr oder in Raten zu bezahlen – kurz: Leben bedeutet immer auch wählen zwischen unzähligen Optionen. Damit sind Jas und Neins schon angelegt.
Man könnte pointiert formulieren, dass der heutige Mensch dazu verdammt ist zu lernen, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit das passende Ja oder Nein auszusprechen. Es geht also beim Nein-sagen letztlich auch um Selbstbestimmung, Selbstbehauptung, Autonomie. Was allerdings für ihn richtig oder passend ist – das lässt sich gar nicht so leicht und manchmal auch erst nachträglich klarer erkennen. Aber so ist das Leben nun mal!
Viele Menschen haben eine ihnen häufig nicht so bewusste Scheu vor einer tatsächlichen oder auch nur befürchteten Ablehnung, vielfach ist es auch nur die Angst vor der Blamage, ob real oder nur eingebildet. Wer als Kind allerdings erlebt hat, nichts zu sagen zu haben, schweigen zu müssen («halt den Mund!») – der ist dann anfälliger. Wer Nein sagt, läuft je nach Situation ja vielleicht durchaus Gefahr, als Querulant, als Störenfried u.ä. eingeschätzt zu werden. Eltern haben häufig Angst vor dem Nein, weil sie einen Liebesverlust bei ihren Kindern befürchten, eine Angestellte befürchtet, beim Chef schlecht dazustehen oder damit eine allfällige Beförderung oder Lohnerhöhung zu verhindern, eine Lehrperson, sich bei den Schüler*innen unbeliebt zu machen, nicht cool zu sein.
Je nach Kontext, Person und Umständen liegen weitere, ganz unterschiedliche Gründe bzw. Hintergründe dazu vor: Einige Menschen sind sehr ehrgeizig, haben ein ausgeprägtes Geltungsstreben, ein zu hohes Pflichtbewusstsein – oder eben starke Angst, bei einem Nein ausgeschlossen zu werden: Alles zusätzliche mögliche Gründe, warum ein Nein schwerfällt. Aber meistens steht letztlich eine Befürchtung, eine Angst vor Ablehnung, vor einer negativen Reaktion dahinter, die der oder die Betreffende verhindern möchte, sie nicht zu ertragen glaubt. Menschen brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit, die Wertschätzung – und wenn sie dies in ihrem bisherigen Leben selber zu wenig erfahren haben, sind sie anfälliger, auf ein Nein vorzeitig zu verzichten.
Viele Menschen haben aufgrund ihrer Sozialisation nicht gelernt, angemessen auf Nein-Reaktionen anderer Personen zu reagieren. Selbstverständlich gibt es auch Zeitgenossen, die quasi chronische Nein-Sager sind, ihre Rolle im Leben sozusagen als ‚chronische Neinsager’ gefunden haben – es sind Personen, die schon NEIN! denken oder sagen, bevor der andere seinen Wunsch oder Vorschlag (fertig) formuliert hat. Ein schwieriger Lebensstil!
Die meisten Menschen machen sich eindeutig viel zu grosse Sorgen über die angeblichen möglichen schrecklichen Folgen ihres Neins: Ich werde abgelehnt, ausgeschlossen, blamiere mich, verliere mein Gesicht, den Respekt, werde nicht mehr geliebt usw. – unterschiedlichste Befürchtungen werden aktiviert, ja manchmal gar gepflegt. Hilfreich ist es, sich vorher klar zu überlegen, warum man Nein sagen möchte und dann auch bewusst alle möglichen Folgen in Kauf nimmt, die eintreffen könn(t)en. Es geht darum, bewusst die Verantwortung für seinen Entscheid zu übernehmen. Meistens ist die Reaktion auf ein Nein dann allerdings weniger gravierend als befürchtet, oder tritt überhaupt nicht wie erwartet ein!
In sehr vielen Fällen ist das Wie eines Neins von entscheidender Bedeutung: Ein ruhiges, klares, überlegt und sachlich-nüchtern bis freundlich ausgesprochenes Nein kommt in der Regel viel besser an als ein Nein im Affekt, im Zorn oder gar in Form von Anschreien. Die erste Variante bietet dem Adressaten die Gelegenheit, darüber nachzudenken: Wer ruhig, bestimmt und freundlich Nein sagt, muss sich ja wohl etwas überlegt haben, könnte ja vielleicht sogar recht damit haben, hat sogar manchmal eine Vorbildwirkung! Ihm wird eher argumentative Sachlichkeit als unüberlegte Emotionalität zugebilligt – und das beeindruckt die Menschen in der Regel doch in erheblichem Masse. Das Gegenüber spürt zudem in diesem Fall mit viel höherer Wahrscheinlichkeit, ob das Nein sich auf die Sache bezieht – wenn es eben sachlich, klar, begründet und präzis ausfällt – oder ob es auf die Person abzielt, sie also persönlich angreift.
«Viele Menschen haben aufgrund ihrer Sozialisation nicht gelernt, angemessen auf Nein-Reaktionen anderer Personen zu reagieren.»
Fühlt sich jemand durch das Nein in seiner Person getroffen, angegriffen, dann kann er oder sie damit natürlich weniger souverän umgehen. Und das ist bei einem zornigen Nein eher der Fall. Allerdings soll man sich auch nicht scheuen, ein klares und deutliches Nein bei klaren und unakzeptablen Grenzüberschreitungen (z.B. Belästigungen) auszusprechen. Das wirkt häufig überraschend deutlich und schnell.
Wer sich seine Meinung vorher gut überlegt hat, sie wohl begründen kann, hat es leichter. Die ersten Frauen und Männer, die sich für Gleichberechtigung der Geschlechter engagierten (ein Nein zur vorherrschenden biblischen Meinung der Zweitrangigkeit der Frau!), waren von ihrer Meinung überzeugt und hatten auch viele sachliche Argumente – das machte sie sicherer. Ein solches Nein beinhaltet häufig eine klare Vision, die ihre Träger mit Kraft versorgt: Eine Welt der Gleichberechtigung von Frau und Mann ist möglich, Wohlstand nicht nur für eine kleine privilegierte Schicht, Bildung für alle, Sklaverei und Ausbeutung sind keine Naturgesetze oder Gottes Gebote, die Luft- und Meeresverschmutzung oder die Erwärmung der Erdatmosphäre sind von Menschen gemacht und somit veränderbar usw.
Bertrand Russell formulierte einmal treffend: „Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten, jede heute gängige Meinung war einmal exzentrisch.“ Ein klares Nein zu formulieren kann im Moment zwar unangenehm sein, aber nicht selten die Umgebung auch zum Nachdenken anregen, das Gegenüber beeindrucken. Das Nein einiger Weniger in den frühen 1960er Jahren zum Vietnamkrieg hat schliesslich eine breite Zustimmung in vielen Ländern gefunden und diesen Krieg zu einem Ende gebracht. Ähnliche Beispiele lassen sich leicht finden, denken Sie zum Beispiel an 1989: Die Apartheidpolitik in Südafrika oder das Nein Hunderttausender zum Ostblockkommunismus, das schliesslich eine unblutige Wende herbeigeführt hat!
David Zeindler
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